90 Jahre Leben in Aidlingen – Willi Gerlach blickt zurück – Teil 3

Drittes Reich, Krieg und Auswirkungen

Erinnerungen an die Schulzeit

Ich bin 1933 in die Schule gekommen. Am ersten Schultag begleitete mich meine Mutter. Mein Vater hatte dafür keine Zeit. Es war anders als heute. Man hat damals nicht bei jedem Anlass eine Feier gemacht.

1932 war Hitler an die Macht gekommen. Es kam auf die Einstellung der Lehrer an, wie sie sich uns gegenüber verhielten. Ich bin politisch erzogen worden. Ich kam in einen Zwiespalt: Wem glaube ich? Ich habe meinem Vater mehr geglaubt und auch meine eigenen Beobachtungen gemacht. Mein Vater war kein Nazi. 1935/36 hat er zu mir gesagt: „Du wirst es erleben, du musst noch in den Krieg.“ Das hätte von den Lehrern keiner gesagt. Zwei Drittel der Lehrer waren Nazi, und sie bekamen eine Lehrerwohnung. Auch das wäre heute nicht mehr möglich: Hauptlehrer Max Weißhar brauchte für seine Frau öfters jemand zum Helfen. Da mussten dann ein, zwei Schüler herhalten, vom Einkaufen bis zum Teppichklopfen. Mein Vater hätte das bei mir nicht zugelassen. Wie zwei Mädchen aus unserer Klasse wollte auch ich gern in die Oberschule. Das aber kostete Geld, das mein Vater nicht hatte. Es kam vor, dass Schüler in die Realschule durften, aber wieder zurückgeschickt wurden. Ich hätte verärgert sein können, dass man mir nicht die Chance eingeräumt hatte. Aber ich hatte gegen keinen etwas.

Ich bring euch dahin, wo ihr hingehört!“ Geprägt durch den Krieg

Das Verhängnisvollste passierte 1943, als ich schon in der Lehre als Orthopädie-Schuhmacher war und dazu täglich mit dem Rad nach Stuttgart fahren musste. Ich kam spät nach Hause. Ich war bei der HJ und konnte nicht an den HJ-Treffen in Aidlingen teilnehmen. Der damalige HJ-Führer – er ist später gefallen – kam an einem Samstag im September zu meinem Vater Wilhelm und verlangte, ich solle morgen mit Schippe und Rechen zu Reparaturen in der Moltke-Kaserne antreten. Mein Vater, der daran dachte, welche körperlichen Anstrengungen ich jeden Tag und bei jedem Wetter zu bewältigen hatte, widersetzte sich: „Der schläft aus!“ Darauf der HJ-Führer: „Ich bring euch dahin, wo ihr hingehört“. Der gemäßigte Ortsgruppenführer Bäßler hat das nicht gewollt und geraten: „Tu das nicht!“

Kurz darauf, ich war gerade 16 geworden, erhielt ich einen Brief, ich müsse mit Gewehr zum Reichsarbeitsdienst nach Budweis in der Tschechoslowakei. Am 23. 9. rückte ich ein und kam in die 1. Abteilung (mit Gewehr) und nicht in die 2. Abteilung (mit Schaufel). Ich kam zur Luftwaffe, fliegendes Personal, und wurde zum Bordschützen ausgebildet. Eine Woche nach mir erhielt mein Vater, Marinesoldat schon im Ersten Weltkrieg und 53 Jahre alt, einen Einberufungsbefehl. Er kam auf die Insel Sylt auf einen Öltanker, der U-Boote mit Wasser versorgte. Er überstand am Ende, wie ich schon erzählt habe, selbst die schlimme amerikanische Kriegsgefangenschaft in Bad Kreuznach, die Unzähligen das Leben kostete.

Ich kam noch 1943 von Budweis zurück und sollte auf dem Eisberg bei Calw die Fliegertauglichkeitsprüfung und die Prüfung als Bordschütze machen. Ich war beim 71er Fliegerregiment und in Südfrankreich im Einsatz. Wenn ich gefragt werde – ich habe nicht an Angst oder Tod gedacht. Mit der JU 52 flog ich von Marseilles aus drei Einsätze. Ich wurde dann nach Nîmes in die dortige Artilleriekaserne abgeordnet und zum Bordkanonenschießen ausgebildet. Das war technisch wesentlich komplizierter als das Schießen mit unserem Maschinengewehr. Entsprechend größer war die Wirkung. Während der Zeit in Nîmes wurde mein Pilot abgeschossen. Das gab zu denken. Es war für mich aber ein Glück, zu den Fliegern zu gehören. Da war die Elite, es ging uns bestens. Das fing beim Essen an, wir hatten türkischen Bienenhonig und Heidelbeermarmelade und kriegten auch besseres Essen als ein normaler Artilleriesoldat. Hätte ich die Ausbildung zum Bordkanonenschießen verweigert, wäre ich eingesperrt worden, denn unser Major hatte beobachtet, dass ich einen Vorgesetzten nicht gegrüßt hatte. Dass ich mit dem normalerweise täglich in einer Maschine saß, spielte keine Rolle. Zu einer Flugzeugbesatzung gehörten der Pilot, der Bordschütze und die Bordkanone, eine 3,9er. Die Bordkanone kam in eine JU 52, die zum Transportflieger, zum Transport von Waffen, umgebaut war. Auf dem Rückweg nahmen wir Verwundete und Tote an Bord. Wir wurden regelmäßig beschossen.

Später war ich bei der Luftwaffen-Infanterie. Beim Rückzug sind wir die 500 km von Toulouse bis Belfort mit dem MG auf dem Rücken zu Fuß gelaufen, was wir konnten. In Belfort Vermondans waren wir in sieben schlimme Nahkämpfe verwickelt. Man sah dem Gegner in die Augen. Wir hatten fast nur Senegalesen uns gegenüber, friedlichste Menschen. Doch die Devise lautete: Kämpfen mit Gewehr und Bajonett. Es überlebt immer der Schnellere. Uns als MG-Schützen hat der Revolver das Leben gerettet, den die anderen nicht in ihrer Ausrüstung hatten. Die anderen waren ohne Chance. Es ging um Sein oder Nichtsein. Man kann es sich nicht vorstellen. Ich hatte eine Schussverletzung im Rippenbereich und eine Rippenfellentzündung, die vielleicht schon von den Strapazen der davor liegenden Zeit herrührte. Ich kam zum Hauptverbandsplatz nach Zillesberg (Elsass) und von dort statt an die Front zum Ersatzkommando nach Fürth. Ein hervorragender Arzt hat mir das Leben gerettet – es war unser Aidlinger Arzt Gagstätter, der dort Truppenarzt war und schließlich auch veranlasste, dass ich nach Triberg in das Hotel Sonne verlegt wurde. „Bua, was machst du denn da!“ Den Ausruf von Gagstätter, als wir damals zusammentrafen, habe ich bis heute im Ohr.

Ich denke noch viel an den Krieg. Ich kann kaum verantworten, wie viele Menschen damals durch mich umgekommen sind. Ich habe geschossen aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Ich frage mich manchmal auch, ob das Unglück mit meinem Oberleutnant in Nîmes vielleicht nicht passiert und er nicht abgeschossen worden wäre, wenn ich dabei gewesen wäre. Ich war ein hervorragender Schütze. Der Schnellere gewinnt – so war das Leben damals und ist es auch heute noch oft.

Ich kam in Gablitz bei Freistadt in Österreich in russische Gefangenschaft. Glücklicherweise wurde ein Teil von uns Gefangenen von den Amerikanern übernommen, die anderen kamen nach Sibirien. Den Amerikanern ging es meiner Meinung nach bei ihrer Deutschlandpolitik nach dem Krieg darum, ein Bollwerk gegen die Russen zu haben.

Als ich nach wenigen Wochen Gefangenschaft aus dem Krieg zurückkam, habe ich meine 1941 begonnene Lehre bei Eisenhart in Böblingen zu Ende gemacht und danach auch die Gesellenprüfung abgelegt. Meine Kameraden mussten zum Teil mit 17, 19 Jahren sterben. Manche kamen nicht einmal zum Einsatz und wurden tot aus dem Flugzeug herausgeholt.

Veränderungen nach dem Krieg

Flüchtlingsintegration

Vieles im Ort hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg zum Guten verändert. Die Zuzügler am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden aufgenommen. Man merkte von Anfang an, die Flüchtlinge wollen schaffen. Hunderte waren es, ganze Straßenzüge und Ortsteile wurden neu gebaut. Die Flüchtlinge von heute kriegen einfach Geld. Das ist falsch. Alle haben sich damals integriert, die heutigen tun es nicht mehr. Fremdarbeiter gab es bei uns im Übrigen nicht erstmals um 1960, sondern schon nach dem Ersten Weltkrieg. Die Leute waren zum Straßenbau eingesetzt. Was nach dem Zweiten Weltkrieg geschah, die Zuweisung so vieler katholischer Flüchtlinge in unsere Orte mit praktisch rein evangelischer Bevölkerung, war eine gezielte Maßnahme der Besatzungsmächte. Das musste anfangs zu Problemen führen. Sogar unser Pfarrer Ringwald riet einmal, besser keinen Flüchtling zu heiraten.

Rolle der Frau

Verbessert hat sich nach und nach die Lage der Frauen. Frauen wurden früher nicht genügend respektiert. Im ländlichen Bereich hatten sie die oft zahlreichen Kinder aufzuziehen, daneben Stall-, Feld-, Garten- und Hausarbeit zu verrichten. Ihre Arbeit wurde nicht genügend geschätzt. Ich weiß, es hat Fälle gegeben, dass ihnen sogar eine Mistgabel hinterher geworfen wurde. Frauen soll es besser gehen. Ich finde es trotzdem sehr wichtig, bei allem Fortschritt darauf zu achten, dass Kinder vorwiegend zur Mutter gehören.

Zufrieden mit dem Leben

Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es gelaufen ist. Der Krieg hat Spuren hinterlassen. Ich hatte aber ein paar Mal großes Glück, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin. Ich hatte Glück mit meinem Beruf und unserem Geschäft, ich habe meine Arbeit immer gern getan. Ich hatte Glück mit meiner Familie. Alle vier Kinder kümmern sich um mich. Jetzt geht es mir gesundheitlich zwar nicht mehr 100%ig, aber es könnte schlechter sein. Ich kann in meiner Wohnung unterwegs sein und mich an Aidlingen freuen, wenn ich aus dem Fenster schaue.

Aufgeschrieben von Siegrid Krülle