Warum krieg’ ich 10 Pfennig und nicht Schokolade wie die andern?

Schule in einem schlesischen Bauerndorf vor 120 Jahren

Das neue Schuljahr hat begonnen. Bei der Frage, wie’s damals war, erinnern sich viele Aidlinger an ihr altes Schulhaus, das einmal – man glaubt es kaum – auf dem knappen Raum zwischen Kirche und altem Rathaus seinen Platz hatte. Andere denken an ihre fernen Heimatorte, aus denen sie oder ihre Vorfahren bei Kriegsende vertrieben wurden. Eine ganze Reihe von Aidlingern, so auch meine Familie, stammt aus Schlesien. Ich bin dort selbst noch in die Schule gekommen. Was man in unserem Heimatort Bärsdorf im Waldenburger Bergland als Schulkind erlebte, wenn man 1890 geboren war, weiß ich von unserer Großmutter, die das biblische Alter von 106 Jahren erreichte und mit etwa 100 folgendes erzählt hat:

„Ich kann mich noch erinnern, wie ich an Ostern 1896 in die Schule kam. Ich war erst fünf und klein und hatte Angst vor dem Lehrer. Der war so narbig im Gesicht. 10 Pfennig habe ich gekriegt und habe gefragt, warum kriege ich 10 Pfennig und nicht Schokolade wie die anderen. Ob ich etwas gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Geld hat man aber immer aufgehoben. Schultüten gab’s bei uns nicht. Den Schulranzen bekam ich schon vorher zu Weihnachten. Er war schön und aus Kalbsleder. Drei Klassen hatten wir Schiefertafeln. Bis zur 3. Klasse hatten wir alle zusammen nachmittags Schule von 1 – 3 Uhr. Ab der 4. Klasse gingen wir in die Frühschule. Die dauerte im Sommer von 7 – 11 Uhr, im Winter von 8 – 12 Uhr.

Zuerst hatten wir den Lehrer Jänsch, der war krank. Er hatte ein Kehlkopfleiden, war heiser und saß die meiste Zeit hinter dem Ofen. Er war eines Morgens nicht mehr da und ist im Krankenhaus gestorben. Heute könnte das nicht mehr passieren. Hätte er eine Frau gehabt, wäre es auch anders ausgegangen. Es folgten einige Lehrer zur Vertretung, schließlich
Lehrer Rindfleisch.

Wir hatten Weihnachts-, Oster-, Pfingst- und drei Wochen Ernte-, außerdem zwei Wochen Kartoffelferien. An Kaisers Geburtstag wurde in der Schule eine Feier abgehalten. Er war am 27. 1. 1859 geboren. Seine Frau war etwas älter und am 20. oder 22. 10. 1858 geboren. Sie ging nach dem Ersten Weltkrieg noch mit ihm nach Holland ins Exil. Ihre Enkelin sagte
später, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Die Geschichte der Kaiserfamilie gehörte zu unserem Schulstoff. Kritik war nicht üblich. Wenn ich früher öfters sagte, ich wünschte mir wieder einen Kaiser, so ist mir das heute gleichgültig. Die vielen Streitereien von heute gab es damals aber nicht.

Jedes Jahr am Sedantag, am 2. September, wurde bei der Friedenseiche, die, soviel ich weiß, am Ende des Krieges 1870/71 gesetzt worden war, ein Jubiläum gefeiert. Die Schulkinder gingen mit dem Lehrer hin. Sie sangen:

„Frei und unerschütterlich
Wachsen unsere Eichen,
Mit dem Schmuck der grünen Blätter
Stehn sie fest in Sturm und Wetter,
Wachen nicht noch weichen.
Darum sei der Eichenbaum
Unser Bundeszeichen,
Dass in Taten und Gedanken
Wir nicht schwanken oder wanken,                                                                            niemals mutlos wanken.“

Dann hat der Lehrer eine Ansprache gehalten. Vom Krieg, mehr weiß ich nicht mehr. Dann durften wir heim.

Manchmal wollten wir auch sonst schulfrei haben. Da schrieb einer der Schüler an die Schultafel:

„Fasten ist nicht alle Tage
Jeder Tag hat seine Plage.
Ach, wie freuten wir uns sehr
Wenn heut die Schul um 10 aus wär’.“

Lehrer Rindfleisch sah das als Spaß an und gab das Kommando zum Ablöschen.

Ich war eine sehr gute Schülerin. Einmal kamen Spaziergänger vorbei, als wir gerade vor der Schule auf der Straße waren. Sie stellten uns eine Rechenaufgabe, die ich als erster löste. Ich erhielt einige Pfennige als Belohnung und war darüber sehr stolz. Von uns Bauernkindern
ging damals keines in die Oberschule. Die war in der Stadt und für uns nicht erreichbar. Es gab ja damals noch keinerlei Verkehrsmittel. Als bei uns das erste Mal Radfahrer auftauchten, rannten wir Kinder lachend und staunend hinterher. Die beiden Männer wie die Frau hatten blaue Samtanzüge und auch die Frau Hosen an – Frauen in Hosen, das kannten wir so wenig wie ein Fahrrad. Meine Mutter erzählte, ihr um 1840 geborener Vater habe
beim ersten Anblick eines Autos ungläubig den Kopf geschüttelt: „Nee, die war’n no ei dar Luft kumma.“

Wir Kinder mussten frühzeitig bei der Arbeit mithelfen. Aber wir hatten auch unser Vergnügen. Wir sind z. B. von den Scheunenbalken in das Heu gesprungen. Einmal blieb mein Bruder Heinrich bewusstlos liegen, und wir anderen sind vor Schreck alle weggerannt. Möglicherweise hing es mit diesem Unfall zusammen, dass er später viel Kopfweh hatte.

Bis zum letzten Schuljahr gab der Lehrer den Religionsunterricht. Dann gingen wir – ein paar Mädchen, ein paar Jungen – zum Konfirmandenunterricht nach Dittmannsdorf, unserem Kirchort. Wir waren eine Stunde unterwegs, gingen erst einen Feldweg und dann durch den
„Seifenwald“. Bei der Konfirmation hatten wir schwarze, die Katholischen bei ihrer Kommunion weiße Kleider an. Wir wurden mit festlich geschmückten Pferdekutschen zur Kirche gefahren. Es war immer ein besonderes Fest.“

 

von Siegrid Krülle