Weihnachtserinnerungen – Teil 2

An das Weihnachten ihrer Kinder- und Jugendzeit denken vor allem auch jene Aidlinger zurück, die ihre ursprüngliche Heimat im Osten Deutschlands oder den Ländern im Osten und Südosten Europas im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten. Das Weihnachtsbrauchtum ähnelte sich im ganzen deutschen Sprachraum – das Weihnachtsgeschehen stand im Mittelpunkt, nichtchristliches Winter- und Lichterbrauchtum war aber eingeflossen, dazu gehörte das Aufstellen des Weihnachts- oder Christbaums. Die Bräuche hatten in West wie Ost regionale und konfessionelle Ausprägungen, wobei sich in den Staaten außerhalb Deutschlands das Zusammenleben mit der einheimischen Mehrheitsbevölkerung und deren Traditionen zusätzlich bemerkbar machen konnte. Hier wie dort machte es natürlich auch einen Unterschied, ob man in bäuerlichem Umfeld, in einer Kleinstadt oder als Arbeiterkind in einer Großstadt aufwuchs. Zwei Aidlinger berichten:

Breslau: Kaninchen statt Gans und Christbaumanhänger aus Fondant

Herr Max Walewski, der kürzlich schon von seinen Fluchterlebnissen erzählte, stammt aus Breslau. Der Vater war Arbeiter und die Familie, zu der neben der Mutter und den zwei Söhnen auch die Oma zu rechnen war, gehörte zur weniger wohlhabenden Schicht. Unterschiede gab es z. B. schon beim Weihnachtsessen, die Kriegszeit wirkte sich zusätzlich aus. „Am Hl. Abend war es üblich, Karpfen zu essen. Die Ärmeren aßen zu Mittag eine einfache Suppe und abends Kartoffelsalat und Würstchen. Am ersten Feiertag aßen die einen Gans, wir aber Kaninchen aus eigener Aufzucht. Während des Krieges waren allerdings Gänse mehr und mehr zu Mangelware geworden, und man musste auf dem Schwarzen Markt oder per Tauschgeschäft den Bauern schon einiges bieten, um in den Genuss eines derart gehobenen Weihnachtsbratens zu kommen.

Unser Christbaum war mit Kugeln aus dem Erzgebirge, Lametta und – ganz wichtig – Anhängern aus ‚Fondant‘ behangen. Das waren aus einer Süßigkeitsmasse gepresste Figuren, die mit farbiger Zuckermasse oder Schokolade überzogen und mit einem Bändchen am Baum befestigt waren. Wir durften nur nach und nach einzelne essen, damit sie bis Hl.-Drei-König reichten. Manchmal haben wir etwas nachgeholfen und an den Ästen geschüttelt, Heruntergefallenes durften wir essen.

Ich erinnere mich an ein ganz besonderes Geschenk. Meine Großmutter war gut im Organisieren. Sie verstand es, so manches unserer Kaninchen gegen die eine oder andere Ware umzutauschen. Auf diese Weise kam ich zu einem Paar neuer hoher Schuhe, die zwar gebraucht, aber in noch sehr ordentlichem Zustand waren. Meine alten waren schon völlig verbraucht. Schuhe zum Wechseln – das hatten wir damals nicht. Die ersten Halbschuhe meines Lebens bekam ich 1946 mit 14 Jahren. Auch einen Wintermantel, der einem anderen Jungen zu klein geworden war, hat die Großmutter mir mit einem Kaninchen erschachert. Bei uns war ein Kanal, der „Stadtgraben “, da sind wir Schlittschuh gelaufen, Schlitten fahren konnten wir an den Oderhügeln oder bei unserem Schrebergarten.

Nicht vergessen darf ich- wir Kinder sind am Nachmittag des Hl. Abend in Begleitung unserer Mutter zu einem Krippenspiel und einer Krippenandacht in unsere Mauritiuskirche gegangen. Abends war noch eine Messe. Da sind weder wir alle noch auch nur die Mutter und Großmutter hingegangen. Es war zu finster. Überall galt damals wegen der Bombengefahr das Verdunkelungsgebot, vor der Kirche waren deshalb auch Christbäume verboten.

Sylvester? Vor dem Krieg fanden an Sylvester große Bälle statt. Bei uns in der Nähe, bei der Endstation der Linie 4, war ein Vergnügungsviertel mit drei Sälen, darunter dem Schlesiersaal, der mit einem drehbaren Sternenhimmel ausgestattet war. 1944 war hier noch die Stadtranderholung für Schulkinder untergebracht. Auch das Varietétheater ‚Wappenhof‘ befand sich in diesem Vergnügungsviertel. Heute ist alles zerstört oder abgerissen.“

Gedichte, Lieder und Beigel in Litauen

Noch weiter aus dem Osten bzw. Norden, nämlich aus Litauen, stammt eine Aidlingerin, die sieben Jahre alt war, als die Familie wie die meisten anderen Litauendeutschen 1941 auf Grund eines zwischen Hitler und Stalin abgeschlossenen Vertrages ins damalige Deutsche Reich umgesiedelt wurde. „Wir lebten in einer Kleinstadt, mein Vater hatte einen Färbereibetrieb. Ich hatte noch zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester. Bei uns lebten auch der Großvater mütterlicherseits und ein Kinder- bzw. Hausmädchen. Unser Weihnachten war jedes Jahr sehr festlich. Wir feierten in unserem Haus im ‚Saal‘, das war ein großes Wohnzimmer, das nur an Festtagen geöffnet wurde. Da stand der Christbaum in voller Pracht und reichte bis zur Decke. Der Baum war an der Spitze mit einem bunten Glasvogel und sonst mit Kerzen und Kugeln geschmückt. Meine Brüder und ich haben uns immer jeder eine Kerze ausgesucht – wir glaubten, der, dessen Kerze am längsten brannte, würde am längsten leben.

Schon zum Essen oder danach trafen weitere Verwandte bei uns ein. Das Essen war vom Tischgebet umrahmt. Wie immer an Festtagen gab es zum Essen baltische Speckkuchen und Honigkuchen auf großem Blech. Die baltischen Speckkuchen waren eine Art Piroggen, kreisförmige Teigteile, die mit durchwachsenem Speck, Pfeffer und Zwiebeln gefüllt und dann zusammengeklappt wurden. Gebacken wurden meist auch Apfel- und Streuselkuchen und in jedem Fall ‚Beigel‘, ein jüdisches Gebäck. Es werden dazu aus einem aus Mehl und Milch hergestellten Teig Kringel geformt, die mit Eigelb bestrichen werden. Nach dem Essen ging man zum Weihnachtsbaum. Jetzt haben wir Weihnachtslieder gesungen – dieselben wie hier, denn wir gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an. Die Weihnachtsgeschichte wurde gelesen, und wir Kinder mussten die Gedichte aufsagen, die wir mit Hilfe der Mutter in den vorausgegangenen Wochen gelernt hatten. Der Weihnachtsmann erschien, wir hatten großen Respekt vor ihm und seiner Rute. Ich erinnere mich noch, wie eine Cousine ihn als meinen Vater erkannte und mit der Rute etwas abbekam. Es gab Geschenke, z. B. ein Buch oder Schlittschuhe für meine Brüder, die ich auch ausprobierte. Die Gummipuppe für die Badewanne und einen Ball, die ich einmal bekam, hat einer meiner Brüder aufgeschnitten, weil er immer wissen wollte, wie etwas funktionierte. Wir sind nicht regelmäßig in unsere deutsche Kirche gefahren. Sie war 15 km entfernt, zu weit für den Schnee und die winterlichen Verhältnisse von damals, auch wenn wir schon ein Auto hatten.

1940 haben wir unser letztes Weihnachten in der alten Heimat gefeiert. Manches von den alten Gebräuchen haben wir später schon der Erinnerung zuliebe beibehalten. Jedes Jahr werden bis heute Plätzchen und baltische Speckkuchen gebacken wie damals.“

Siegrid Krülle