Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil I

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Menschen so sehr mit dem Thema Flucht und Vertreibung beschäftigt wie heute. Aktueller Anlass sind jetzt die Kriegs-, Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in Massen in die EU und vor allem nach Deutschland drängen. Die Massenaustreibung von Deutschen aus ihrer Heimat, die am Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte, erfasste 12 – 14 Millionen Menschen und übertraf zahlenmäßig alle bisherigen Flüchtlingsvorgänge. Trotzdem wurde die Flucht und Vertreibung der Deutschen nicht in gleicher Weise beachtet wie die gegenwärtige Flüchtlingssituation. Zeitweise wurde sie sogar verschwiegen und tritt erst heute wieder mit in den Blickpunkt. Sie ist aber unter historischen und rechtlichen Aspekten anders einzustufen als die heutigen Vorgänge. Damals kamen Deutsche zu Deutschen, sie hatten eine Sprache und trotz regionaler Unterschiede ein- und dieselbe Kultur. Und sie kamen zwar in ein verkleinertes Deutschland, das darniederlag, zerbombt und seiner Ressourcen weitgehend beraubt war, aber zu Landsleuten, die nicht weniger den Krieg verloren hatten und denen daher ein Mittragen der Lasten zuzumuten war, wenn die Flüchtlinge auch selten willkommen geheißen wurden.

Heimatverlust

Umsiedlung, Flucht und Vertreibung beendeten für die betroffenen Deutschen die Ansässigkeit in ihrer Heimat vielfach unter brutalen Umständen. Vertreibung bedeutete nicht nur Heimatverlust, sie hatte auch den Verlust allen Vermögens, Zerschlagung von Familie und sozialem Umfeld, Verlust an sozialem Status zur Folge. Unzählige kamen um.Teils waren die Menschen schon vor Kriegsende vor der hereinbrechenden russischen Offensive geflüchtet. 1940 waren zwischen Hitler und Stalin Umsiedlungsverträge für bestimmte Gruppen von Deutschen ausgehandelt worden, die die Umsiedlung „heim ins Reich“ vorsahen. 1946 war das Hauptjahr der Vertreibungen. Sie wurden von den Alliierten schrittweise während des Krieges geplant, waren aber schon vorher insbesondere von der Tschechoslowakei und Polen gefordert worden waren. Maßgeblich war das Potsdamer Abkommen vom August 1945, das zur Unterbindung der bereits in Gang gekommenen „wilden Vertreibungen“ einen „humanen und ordnungsgemäßen Transfer“ der in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verbliebenen Deutschen vorsah. Es folgten besatzungsrechtliche Ausführungsvorschriften. Z. B. sollten Vertriebene, die aus den tschechoslowakischen und südlicheren Ländern kamen, grundsätzlich im Gebiet der amerikanischen Zone aufgenommen werden.

Ankunft in Aidlingen

Aidlingen, Deufringen und Lehenweiler gehörten zur amerikanischen Zone und mussten Flüchtlinge und Vertriebene aufnehmen. Dachtel hingegen lag in der französischen Zone und war davon ausgenommen. Aus den verschiedensten Gebieten stammten am Ende die Flüchtlinge, die in Aidlingen und den Teilorten ankamen, fast 700 an der Zahl allein in Aidlingen, fast 250 in Deufringen. In der amerikanischen Zone mussten grundsätzlich 50 % der Einwohnerzahl von 1939 an Flüchtlingen aufgenommen werde. Trotz aller auch verständlichen anfänglichen Widerstände – man denke nur an die fehlenden Unterkünfte und Arbeitsplätze, auch die gegensätzlichen Konfessionen – ging man aufeinander zu. Der Arbeits- und Aufbauwillen der Vertriebenen überzeugten die Einheimischen.

Der alte Adlerwirt Fritz Zweygart, heute 86, damals 16 Jahre alt, erzählt:

Wir hatten in der alten Gaststätte über dem Bach ein besseres Nebenzimmer, das hatte der Flüchtlingskommissar Weinbrenner im Auge. Eines Sonntags im August 1946, wir waren mitten in der Ernte, fuhr ein Lastwagen vor, mit lauter Flüchtlingen beladen. Es handelte sich um die Familie und Verwandtschaft Hartel, insgesamt 20 Leute. Der Weinbrenner kam zu meinem Vater Gottlob: ‚Du musst sie nehmen.’ ‚Ja, wohin denn?’ ‚Die tust du rauf ins Nebenzimmer.’ Das war nicht einfach, aber es ging, und man brachte auf den 70 – 80 qm die 4 Familien und 20 Personen mit aufgehängten Decken als Zwischenwänden unter.

Nun war ja Ernte, und mein Vater arbeitete bei schönem Wetter auch sonntags. Man holte gerade die Frucht heim. Der alte Hartel war ein richtiger Bauer. Um 11 Uhr waren die Hartels angekommen. Um 1 Uhr hat mein Vater die Pferde eingespannt. Der Hartel: ‚Wohin geht’s?’ ‚Aufs Feld.’ ‚Ich geh mit.’ Die paar Habseligkeiten hat er raufgeschafft. Die ganze Woche hat man Getreide geschnitten und heimgefahren. So habe ich noch nie einen schaffen sehen, für zwei. Wir Männer haben mit der Sense geschnitten, die Frauen haben weggelegt. Er hat für zwei Frauen geschnitten. Die Hartels waren vielleicht ein Vierteljahr bei uns, dann hat der Weinbrenner nach Zimmern gesucht. Es stellte sich heraus, dass es mit dem Kochen gewisse Probleme gab. Die Hartles zogen es vor, statt in die Gemeinschaftsküche im Rössle zu gehen, selber zu kochen. In unserer Küche ließ sich das mit so vielen Leuten nicht lange machen. Da gab mir mein Lehrherr in Stuttgart einen alten Herd mit, er hat ihn sogar raufgefahren. Den haben wir in der Waschküche und mein Vater dazu einen Kochplan aufgestellt. Die Unterbringung im Ort war dann aber doch die bessere Lösung.“

Fortsetzung folgt

Siegrid Krülle