Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil VIII

Die Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen und die Geschichte der Ansiedlung (2. Teil: Die Geschichte der Ansiedlung)

Im letzten Beitrag zur Themenreihe war von den Herkunftsgebieten der Vertriebenen im östlichen Europa die Rede. Wann und wie aber waren die Vorfahren der Vertriebenen in diese Gebiete, ihre damalige neue Heimat, gelangt?

Schon mit der Christianisierung seit Karl dem Großen und seinen Nachfolgern begann in Europa eine West-Ost-Bewegung. Aber dann machten sich seit dem 12. Jahrhundert in verschiedenen Perioden Menschen aus dem Westen auf den Weg, die in der Regel von den damaligen östlichen Herrschaftsinhabern zur Ansiedlung ins Land gerufen wurden. Diese Herrschaftsinhaber in den östlichen Regionen waren v. a.

  • die Könige von Ungarn, denen es um das Jahr 1000 gelungen war, ein Reich in Mitteleuropa zu etablieren. Sie siedelten z. B. in ihrem Reich im 12. Jahrhundert die Zipser und die Siebenbürger an in Gebieten, die heute den erst in jüngerer Zeit gegründeten Staaten Slowakei und Rumänien angehören;

  • später in etwa der gleichen Region die österreichisch-ungarischen Herrscher. Eine gezielte und staatlich gelenkte Ansiedlung verfolgten z. B. im 18. Jahrhundert Maria Theresia, ihr Vater und ihr Sohn Joseph II. mit den „drei Schwabenzügen“ in den verwüsteten Donauraum;

  • polnische Fürsten, die seit dem Jahr 1000 christianisiert waren und sich dem Westen und seiner Kultur zuwandten;

  • die russischen Zaren im 18. und 19. Jahrhundert, die u. a. Deutsche in Bessarabien, im Schwarzmeer-, Wolgagebiet und im Kaukasus ansiedelten.

Sie ließen in den westlichen Ländern für die Auswanderung werben, in der Regel durch sog. Lokatoren. Die Motive der Herrscher für die Anwerbung von Ansiedlern waren vor allem:

  • Urwälder und durch Kriege heruntergekommenes Land sollten gerodet und landwirtschaftlich nutzbar gemacht werden,

  • dabei der kulturelle Vorsprung der Neusiedler (eiserner Pflug, Dreifelderwirtschaft, Kenntnisse als Rodungsbauern, Flurordnung, Mühlenwesen) genutzt

  • und nachfolgende aussichtsreiche Einkunftsquellen für die Herrscher geschaffen werden.

  • Oft sollten auch Verteidigungsbarrieren entstehen, das vor allem in Gegenden, die wie der Balkan von Türkeneinfällen oder sonstigen Feinden bedroht waren (Wehrbauern).

Den Auswanderungswilligen wurden Privilegien angeboten, z. B.

  • kostenloses Land,

  • Abgabefreiheit für eine bestimmte Anzahl von Jahren,

  • Religionsfreiheit,

  • Freiheit vom Militärdienst.

Die Motive der Auswanderer waren der Wunsch auf die Befreiung von ihren Not- und Zwangslagen und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die angebotenen Privilegien waren darauf abgestimmt. Die Auswanderer, Bauern wie Handwerker, litten vor allem

  • unter Armut. Ursachen dafür waren z. B. eine hohe Kinderzahl und insbesondere im Südwesten eine Erbgesetzgebung, die nur eine ständige weitere Aufteilung der Höfe zuließ,

  • unter den hohen Abgaben an die Obrigkeit im Friedens- und erst recht im Kriegsfall,

  • unter der generellen Abhängigkeit der Landbevölkerung von der Herrschaft,

  • unter Glaubensunterdrückung,

  • unter fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten. Um das Jahr 1000 war z. B. in bestimmten Gebieten die Bevölkerungszahl stark gestiegen. Zwar war etwa das Gebiet des heutigen Deutschland dünn besiedelt, aber viele Urwald- und Berggebiete ließen sich kaum besiedeln oder gehörten weltlichen oder geistlichen Obrigkeiten. Oft geschah auch im Landesinneren eine Besiedelung in Verbindung mit der Gründung von Klöstern, die – auch was Landwirtschaft und Handwerk anlangt – die fortschrittlichsten Kulturträger waren. Derartige auf das Umland ausstrahlende Klostergründungen gab es z. B. gleichzeitig in Schlesien wie im Schwarzwald.

Den ersten der Tod, den zweiten die Not, den dritten das Brot

Wie immer war das Leben für die ersten Einwanderergenerationen am schwierigsten. Vielen kostete der lange, risikoreiche Weg das Leben. Krankheit und Seuchen warteten auch auf die, die sich mit den sog. „Ulmer Schachteln“ auf den Weg machten und im Gebiet der unteren Donau (Banat, Donaumündung) an Land gingen. In Wald- und Sumpfgebieten musste mit einfachen Mitteln, wie sie damals nur zur Verfügung standen, Land urbar gemacht werden, es mussten Grenzverhaue beseitigt, das Land gerodet, gepflügt, erste Hütten und Häuser aufgebaut, Dörfer oder Städte gegründet werden.

Das gemeinschaftliche Leben und Arbeiten spielte für das Weiterkommen eine große Rolle. Teilweise war das Gemeinschaftsleben strengen Regeln unterworfen, die über Jahrhunderte den Fortbestand und die Identität der Gruppe sicherten (Siebenbürgen) oder auch schlicht der gewünschten freien Religionsausübung entsprachen (Bessarabien). In den Städten spielte das Zunftwesen eine große Rolle. Im Norden geschahen die Städtegründungen in der Regel nach deutschem, z. B. Magdeburger Recht (etwa Posen).

Großartige Kultur wurde geschaffen, wie allein die Siebenbürger Städte und Wehrkirchen und die Kirchen und Dörfer in der Zips, die Backsteinkirchen im Ostseegebiet, die Klöster und Städte in Schlesien zeigen.

Grundsätzlich kann man sagen: Die Ansiedlung der Deutschen, die Demonstration und der Erfolg ihres Aufbauwillens waren für die östlichen Nachbarstaaten von Nutzen und eine Bereicherung. Die Ansiedler verhielten sich loyal gegenüber den neuen Herrschern. Die nebeneinander lebenden Volksgruppen respektierten sich gegenseitig.

Nationalistisches Gedankengut und neue Grenzziehungen Ende des Ersten Weltkriegs

Die politischen Strukturen veränderten sich. Das durch die Aufklärung und die französische Revolution gegen 1800 entwickelte neue Gedankengut brachte nationale Vorstellungen und Zuordnungen ins Spiel: Jedem Volk sein Staat. Polen war im 18. Jahrhundert durch Aufteilung seines Gebiets unter drei Staaten, Russland, Preußen – seit 1871 das Deutsche Reich – und Österreich-Ungarn, untergegangen. Nach dem Ersten Weltkrieg mussten die besiegten Staaten Deutsches Reich und Österreich-Ungarn die Abtrennung erheblicher Gebiete akzeptieren. Aus den abgetretenen Gebieten wurden eine Reihe von Staaten neu gegründet, so Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, bzw. bestehende Staaten vergrößert, so Rumänien. Die neuen Grenzziehungen brachten mehr Probleme, als sie gelöst hatten. In jedem der Staaten befanden sich deutsche Minderheiten, die schon in der Zwischenkriegszeit, aber erst recht mit Beginn des Zweiten Weltkriegs unter Druck gerieten, als sich das Deutsche Reich in den drei zuerst genannten Staaten als Besatzungsmacht exponierte. Schon vor Beginn des Krieges hatten allerdings die Vertreter der polnischen und tschechischen Regierung eine Beseitigung der Deutschen aus ihren Staaten gefordert.

Umsiedlung, Flucht, Vertreibung

Die Aktion setzte ein mit den zwischen Hitler und Stalin ausgehandelten Umsiedlungsverträgen von 1940, die die Umsiedlung der Bessarabien-, Dobrudscha- und

Buchenlanddeutschen „heim ins Reich“ (meist in annektierte polnische Gebiete) zur Folge hatten. Es folgte in mehreren Etappen und ebenfalls vertraglich geregelt die Umsiedlung der Baltendeutschen. Ab der zweiten Jahreshälfte 1944 flüchteten die ersten Deutschen vor der hereinbrechenden russischen Offensive in Richtung Westen. 1946 war das Hauptjahr der von den Alliierten schrittweise während des Krieges, dann in den Potsdamer Beschlüssen vom August 1945 und den nachfolgenden Ausführungsplänen vorgesehenen Vertreibungen. 1945 gab es davor schon die sog. „wilden Vertreibungen“.

Fortsetzung folgt

Dr. Siegrid Krülle