Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil V

Integration durch gemeinsame Schulzeit

Vorbehalte und Vorurteile

Es gab natürlich Vorbehalte gegenüber den Ankömmlingen. Ein Sindelfinger erzählte, manche hätten es anfangs abgelehnt, im Krankenhaus mit einem Flüchtling zusammen in einem Zimmer zu liegen. Die Flüchtlinge waren arm gekleidet und oft von ihrem anfänglich miserablen sozialen Umfeld geprägt. Was aus dem Osten kam, war einem nicht geheuer. Nicht selten mussten sich die Flüchtlinge als Polacken und Russen oder Knoblauchfresser beschimpfen lassen – Wörter, die auch in Aidlingen gefallen sind. Viel an der empfundenen Fremdheit war auf die eigene Unkenntnis zurückzuführen. Das gilt auch für den Neid, der sich zum Teil in Sachen Lastenausgleich breit machte. Das Beispiel der Familie Walentin zeigt: Wenn zwei Großbauern, die in der Heimat jeweils über 50 Hektar Land besessen hatten – mehr als jeder Bauer hier hatte, über den Lastenausgleich und ihre Einkünfte als einfache Arbeiter bzw. Rentner den Bau eines von ihnen gemeinsam bewohnten Flüchtlingshauses in Angriff nehmen konnten, gibt es keinen Grund für Neid. Es entstanden durch den Lastenausgleich Belastungen für die Hiesigen – aber hätte ein hiesiger Bauer die Rollen tauschen wollen?

Es war, wie alle bezeugen, lange nicht gerne gesehen, wenn ein Einheimischer einen Flüchtling heiratete. Ein Aidlinger berichtete, es habe ihm, als er nach dem Krieg im heiratsfähigen Alter war, sogar ein Pfarrer geraten: „Bitte keinen Flüchtling.“ Hier ging es nicht nur um den Gegensatz zwischen arm und reich, fremd oder einheimisch, sondern auch zwischen evangelisch und katholisch. Und das war in der damaligen Zeit schwere Kost.

Die Jugend – zusammen auf der Schulbank gesessen und miteinander auf der Gass gespielt

Wie war das Verhältnis der Jugend untereinander? Von ihrer gegenseitigen Akzeptanz und Freundschaft hing vor allem ab, wie sich das Zusammenleben in der Zukunft gestalten würde. Dazu sind Stimmen des Jahrgangs 1939 interessant, der 1945 mit dem ersten Schuljahr begann. Von Anfang an, vor allem in den Jahren 1946 bis 1948, musste die Klasse – wie natürlich andere Schulklassen auch – Flüchtlingskinder aufnehmen, die während der Zeit des Unterwegsseins keinen Unterricht bekommen hatten und jetzt entsprechend ihres Wissenstandes bestimmten Klassen zugewiesen wurden.

Gerhard Zweigart: „ Zu uns kamen Flüchtlingskinder, die manchmal so alt wie wir, aber oft ein oder mehrere Jahre älter und deshalb auch größer waren als wir und in den hinteren Bänken saßen. Neulich traf ich den Erich Rudel, der machte einen Scherz: ‚Ich käme ja gerne zu Eurem 80er-Jubiläum, aber da bin ich ja zu alt dafür’. Das hat mich daran erinnert – er war einer von den damaligen Flüchtlingskindern in unserer Klasse. Die blieben bis zur 7. oder 8. Klasse dabei. Wir haben so einen Älteren vielleicht einmal als ‚Schul-Ehne“ bezeichnet. Irgendwelche Unterschiede, z. B. im Dialekt – das hat sich schnell gegeben. Wir haben, ohne einen Unterschied zu machen, zusammen gespielt. Kinder verstehen und wissen nicht, was passiert ist und passen da nicht auf. Einmal wurde ein Omnibusausflug veranstaltet. Dass war in der damaligen Zeit etwas ganz Besonderes. Der Klassenlehrer verkündete, es gehe an den Bodensee. Eines der Flüchtlingsmädchen hatte dafür kein Geld. Da wurde in der Klasse gesammelt, und sie konnte mitfahren. Es stimmt, dass später, als es ans Heiraten ging, die Älteren manchmal reserviert waren, wenn einer von uns einen Flüchtling heiratete. Man war nicht glücklich darüber, hat aber nichts unternommen. Wer heute an der Schiller- oder Uhlandstraße vorbeikommt, den Flüchtlingssiedlungen von damals, empfindet auf keinen Fall mehr Ablehnung.“

Die anderen aus der Jahrgangsrunde stimmen zu: „Unter den Kindern gab es kaum ein Schiefanschauen. Unser Leben hat sich gemeinsam auf der Gasse abgespielt.“ Agnes Fritsch, geb. Bauer, fügt hinzu: „ Wir haben die Flüchtlinge auch mitgenommen. Wenn die Mutter aufs Feld wollte, ging sie bei den Flüchtlingsbaracken vorbei und fragte: ‚Wer will mitgehen?’“ Sie erwähnt am Beispiel ihres Mannes noch einen anderen Punkt, der für das gute Zusammenleben zwischen Alt- und Neubürgern an allen Orten sehr förderlich war – die Zugehörigkeit zu einem Musik- oder Sportverein. „Mein Mann ist von frühester Jugend an ein begeisterter und wichtiger Fußballspieler gewesen. Dass er auch Sudetendeutscher ist, hat niemand interessiert.“

Ewald Oehler, ebenfalls Jahrgang 1939, lässt sich noch einmal die Gesamtsituation durch den Kopf gehen: „Es musste Platz gemacht werden, als die Flüchtlinge kamen. Wir hatten 3 Familien in der Mühle, mehr als alle anderen, Die Großeltern und die Großtante rückten zusammen. Die Flüchtlinge mussten durch das Zimmer von der Tante gehen, die Küche hatten sie miteinander. Bei den Kindern wurde nicht unterschieden, Kinder finden anders zusammen als die Eltern. Manche waren frech, die waren aus den Baracken. Vorbehalte gab es eher unter den Älteren, die Leute nehmen mussten und ihnen nicht trauten. Mundraub sei schon öfters vorgekommen. Ich glaube, bei manchen war es Hunger. Viele sehr Fromme waren genauso unter den Flüchtlingen, auch einige Evangelische. Viele haben mitgeholfen im Stall oder im Haushalt. Man konnte die Flüchtlinge nicht über einen Kamm scheren. Der Gegensatz zwischen uns Evangelischen und den katholischen Flüchtlingen hat sich mit der Zeit gegeben. Ich habe es in der eigenen Familie erlebt. Ob eine Heirat mit einem katholischen Flüchtling gleich 1945/46 möglich gewesen wäre? Das – das wäre nicht gegangen.“

Nachteile für die damaligen Flüchtlingskinder

Und wie äußern sich die damaligen Flüchtlingskinder? Helga Burkhardt, geb. Hübel, Jahrgang 1938 , aus dem Sudetenland stammend, kam in Aidlingen als Erstklässlerin zum Jahrgang 1939 und blieb bei den Mitschülern bis zur 7. Klasse. Sie verließ die Schule dann zusammen mit dem Jahrgang 1938 im Jahr 1952, also ein Jahr früher als der Jahrgang 1939. Gerhard Zweigart erwähnte den Klassenkameraden Erich Rudel. Der, Jahrgang 1936, beschreibt seine Erfahrungen: „Ich hatte durch die Flucht aus dem Sudetenland über Österreich so viel Zeit verloren, dass ich in Aidlingen in die 2. Klasse zurück musste. Ich wurde von der Klasse und dem Lehrer gut aufgenommen. Ich war bis zur 6. Klasse dabei und kam mit 14 aus der Schule. Damals musste man so schnell wie möglich in eine Lehre und den Beruf, um Geld zu verdienen. In der Gewerbeschule oder auf eigene Faust konnte man noch

dazulernen. Meine größere Schwester ging zu Hause schon in die Mittelschule. Hier kam sie in die 4. Klasse. Sie hat nichts mehr dazugelernt und wurde nicht gefördert.“

Es kam auch vor, dass sich ein Kind als Außenseiter in seiner Klasse fühlte, weil es katholisch war. Dazu und andere Fragen, die durch die unterschiedlichen Konfessionen und Mischehen zwischen den damaligen Alt- und Neubürgern entstanden, einige weitere Berichte in der nächsten Ausgabe.

Siegrid Krülle

Fortsetzung folgt