Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil XI

Max Walewski: Unsere Flucht aus Breslau

Wie Ostpreußen und Pommern gehörte Schlesien mit seiner Hauptstadt Breslau (poln. Wroclaw) zu den Gebieten im Osten Deutschlands, die 1945 unter polnische Verwaltung und 1990 endgültig zu Polen kamen. Wie in Ostpreußen und Pommern setzte angesichts der vorrückenden sowjetischen Armee auch in Schlesien Anfang 1945 die große Fluchtwelle ein, die nicht nur die einheimische Bevölkerung, sondern auch die vielen aus dem weiteren Osten eingetroffenen Flüchtlinge erfasste, meist Frauen mit Kindern und alte Menschen. Nach dem Kriegsende und insbesondere 1946 folgten die Vertreibungen. Ausgenommen waren die katholischen Oberschlesier, die als zwangsgermanisierte Polen betrachtet wurden. Insbesondere auf die Bergleute unter ihnen wollte Polen nicht verzichten. Auch an einigen anderen Orten wurden Deutsche zur Fortführung von Industriebetrieben zunächst zurückgehalten.

Herr Max Walewski aus Aidlingen berichtet über die Flucht seiner Familie aus Breslau.

Ich bin 1932 in Breslau als ältestes Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Als ich am Montag, dem 8. Januar 1945, einen Tag nach meinem 13. Geburtstag, in die Schule kam, war alles leer und die Schule geschlossen. Ich ahnte, etwas Schlimmes war im Gang. Es lagen um diese Zeit bereits Aufrufe in den Briefkästen, Frauen mit kleinen Kindern sollten die Stadt verlassen. Meine Familie, zu der meine Eltern, meine beiden jüngeren Brüder und ich sowie meine Großeltern gehörten, wollte sich zunächst nicht unter Druck setzen zu lassen. Bald drängte auch der Hauswart: „Wann fahren Sie endlich? Haben Sie keine Verantwortung für Ihre Kinder?“ Am 21. Januar wurde Breslau zur Festung erklärt, von da an war es nur noch schwer möglich, die Stadt zu verlassen. Die Russen standen vor Breslau, die Stadt sollte bis zum letzten Mann verteidigt werden.

Ich denke oft an unsere immer bedrohlicher werdenden letzten Tage in Breslau zwischen dem 8. und 27. Januar 1945 zurück. Ich war wie alle 10-14jährigen beim Jungvolk. Wir hatten unsere Aufgaben. So waren wir, jeweils „einer über 13“, für die einzelnen Häuser als „Feuermelder“ rekrutiert worden. Ich war für unser Haus zuständig. Wir sollten auch in Brandbombentechnik unterwiesen werden. Meine Mutter ließ mich dazu aber nicht aufs Dach hinauf: „Die anderen, die Alten, sind auch gehfähig.“ Vor allem hatten wir uns am Bahnhof um die Flüchtlinge zu kümmern, die von der rechten Oderseite und der polnischen Grenze her in die Stadt drängten. Es herrschte damals bittere Kälte. Ich hatte damals mit ein, zwei anderen eine Nacht Dienstpflicht am Hauptbahnhof von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens. Dabei half ich einer Frau mit Kinderwagen über eine Treppe. „Du brauchst gar nicht so vorsichtig sein, Junge“, sagte sie, „das Kind ist schon tot.“ Viele kleine Kinder sind damals erfroren. Ich musste am Ende jener Nacht noch einen Jungen aus einer Erziehungsanstalt, die alle ihre Zöglinge entließ, zu seinen Eltern bringen. Es waren unangenehme Leute. „Ich bringe Ihren Sohn!“ „Was ist los?“ Sie nahmen ihn zu meiner Bestürzung kaum wahr und ich war mir nicht sicher, ob sie ihn überhaupt erkannten oder erkennen wollten. Es war für mich am Ende ein Glück, dass ich den Jungvolkausweis hatte. Denn als wir am 28. Januar, nun zur Flucht entschlossen, auf dem Hauptbahnhof standen, hätte mich sonst eine Wehrmachtsstreife zum Volkssturm mitgenommen, weil sie mich wegen meiner Größe schon für 15 hielten. Das wäre in jenen Tagen fast einem Todesurteil gleichgekommen.

Unser schwer kriegsbeschädigter Großvater hat uns um Bahnhof begleitet. Er blieb zurück, jemand müsse sich um die Wohnung kümmern. Wir rechneten ja noch mit einer späteren Rückkehrmöglichkeit. Der Bahnhof und die Bahnsteige waren voll gepfercht mit Flüchtlingen. Wir warteten vier Stunden. Um 16 Uhr traf endlich ein Zug ein. Es war ein leerer Zug mit D-Zug-Wagen, die nur vorn und hinten Türen hatten, durch die sich nun die Menschen zwängten und sich fast erdrückten. Meine Mutter hat mich über ein Fenster in den Wagen gehoben, ich musste jetzt das Gepäck hinter mir reinhieven. Ich konnte auch bei der Weiterfahrt nur mit einem Bein auf dem Boden stehen, das andere hatte ich auf der Heizung. Der Zug ging über Görlitz an der Neiße nach Dresden. Die Order bezüglich des Zielortes kam vom Ortsgruppenleiter des Heimatortes, der wiederum seine Anweisungen hatte. Unser Zielort war Lauban.

Die Abfahrt verzögerte sich, und die Fahrt allein für die Teilstrecke Breslau – Görlitz dauerte 24 Stunden – normalerweise knappe 2 Stunden. Das kam, wie wir später erfuhren, daher, dass es die für den Betrieb der Bahn notwendige Steinkohle nicht mehr gab, weil sich das Steinkohlegebiet Oberschlesien bereits in sowjetischer Hand befand. Ersatzweise wurde Braunkohle verwendet. Daher musste der Zug alle Viertelstunden fast eine Stunde halten, um wieder neuen Dampf für die Weiterfahrt zu erzeugen. Auch auf dem Görlitzer Bahnhof war das der Fall. Wir planten, uns hier abzusetzen. Wir drei Brüder und die Großmutter waren ausgestiegen, meine Mutter noch im Zug, als der unerwartet weiterfuhr. Sie traute sich nicht abzuspringen. Wir entdeckten ein Rangierhäuschen, einige Rangierer waren drin, die uns rieten: „Lasst das Gepäck da, geht in die Stadt zum Roten Kreuz, vielleicht erfahrt Ihr da etwas über die Mutter.“ Tatsächlich war unsere Mutter beim nächsten Halt des Zuges ausgestiegen und auf den Gleisen nach Görlitz zurückgelaufen. Und – welch Riesenglück – sie fand uns zufällig bei einer Kirche, als sie – gleichzeitig wie wir – auf dem Weg zum Standort des Roten Kreuzes war. Wir versammelten uns dann wieder am Görlitzer Bahnhof. Von dort fuhr noch ein letzter Zug auf der Gebirgslinie über Lauban nach Waldenburg in südlicher Richtung. Wir sind in Lauban ausgestiegen, verbrachten die Nacht auf dem Bahnhof und wurden am 31. Januar 1945 morgens einem pensionierten Kreisbaumeister zugewiesen und in einem Zimmer mit zwei Betten untergebracht.

In Breslau war der Ring schon geschlossen. Doch sind meine Mutter und ich Anfang Februar von Lauban aus noch mal nach Breslau zurückgekehrt. Sie wollte unbedingt noch Bettwäsche und einige andere Dinge aus unserer Wohnung holen. Wir sind in Schweidnitz ausgestiegen und von dort mit einem beladenen Luftwaffen-LKW bis zum „Damm“ in Breslau mitgefahren – dort befand sich eine Umgehungsbahn der Reichsbahn für Güterzüge. Wir haben uns über den Damm geschlichen, sind nach Hause geeilt, der Großvater wollte zuerst kaum aufmachen. Am nächsten Tag konnten wir sogar mit einem normalen Flüchtlingstransport nach Lauban zurückkehren.

Nach einer Woche standen auch in Lauban die Russen vor der Tür und wir wurden mit den Laubanern evakuiert. Wir wurden gruppenweise auf einem Platz zusammengestellt und in Richtung Bautzen und sächsische Landesgrenze jeweils ca. 20-25 Personen in offenen Lastwagen abtransportiert. Das geschah wieder auf Weisung des Gauleiters durch den Ortsgruppenleiter, der auch den Zielort bestimmte. Unser Gruppenführer war ein uns zugeteilter kriegsversehrter einheimischer Mann aus Lauban.

Wir kamen nun für einige Tage ins heute noch existierende Kloster Marienthal am Westufer der Neiße. In einem nahe gelegenen Gasthaus konnten wir auf eigene Kosten essen. Wir waren im landwirtschaftlichen Teil des Klosters und dort in einem sonst wohl für Arbeiter bestimmten großen Raum untergebracht. Das Kloster war von einer Mauer umgeben. Ich wollte hinaus zur Neiße, die Hochwasser führte, und bin dort am Ufer auf einem schmalen Trampelpfad die Klostermauer entlanggegangen. Plötzlich war der Pfad zu Ende, ein Meter unter mir war wildes Hochwasser, ich wagte es nicht, mich auf dem glitschigen Pfad umzudrehen und zurückzugehen. Ich hatte nur den Ausweg, über die fast mannshohe Mauer zu klettern, und landete im Klostergarten. 30-40 m weiter war ein Ausgang, aber er war verschlossen. Ich wollte es mit der kleinen Öffnung versuchen, die unter einer Klappe am Tor unten vielleicht für Hunde oder Katzen eingerichtet war. An den Füßen wurde ich von einer Nonne zurückgezogen. Sie schimpfte, vielleicht auch, weil ich als männliches Wesen den Garten betreten hatte. „Wenn du über die Mauer geklettert bist, dann gehst du auch wieder zurück!“ Ich musste trotz des eiskalten, reißenden Hochwassers zurück, ich hätte kaum eine Chance gehabt. Der Schreck steckt mit heute noch in den Knochen.

Die Odyssee ging weiter. Nach ca. 4 Tagen brachte uns ein von unserem Begleiter organisierter LKW über Zittau nach Rumburg in Tschechien, wo uns die bald selbst vertriebenen dortigen Deutschen nicht gerade freundlich behandelten, und von dort über Dresden, das von den vier Tage zurückliegenden Bombenangriffen noch rauchte, und über Meissen zum Zielort Döbeln. Nach 3-4 Tagen Aufenthalt in Döbeln wurden wir jedoch Richtung Bayern geschickt. Während unseres dreitägigen Zwischenaufenthalts in Zwickau wurde die Stadt bombardiert, genossen wir aber andererseits die Wonne eines Hallenbads. Leider habe ich auf unserem Strohlager in einer Zwickauer Schule die einzige Uhr verloren, die wir hatten. Sie gehörte meinem Vater. Auch meine späteren Nachforschungen auf dem Briefweg blieben ohne Erfolg. Im Güterwagen wurden wir von Zwickau Anfang März nach Eger transportiert, wo wir uns über die Wasch- und Duschräume des Gymnasiums freuten, die Sudetendeutschen uns aber auch hier möglichst bald wieder los sein wollten. Schließlich ging es in die Oberpfalz, nach Neustadt an der Waldnaab, und nach wiederum einigen Tagen zurück, jetzt ins Fichtelgebirge. Marktleuthen war hier die Anlaufstelle. Am 15. März 1945 kamen wir an. Wir wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt. Meine Familie landete in Leuthenforst auf einem mittleren Bauernhof. Unsere Mutter, der kleinere Bruder und ich konnten auf dem Hof bleiben, wir hatten ein Zimmer mit 9 qm. Unsere Oma und der andere Bruder bekamen eine Dachkammer auf einem anderen Hof. Unser Bauer hat mir selber ein Bett gezimmert, ich musste auf dem Vorplatz zum Dachboden schlafen. Ich habe sofort mitarbeiten müssen. Das brachte mir zumindest ausreichendes Essen ein.

Unsere Gemeinde wie das ganze Fichtelgebirge war überfüllt mit Flüchtlingen. 1946 kamen die Vertriebenen aus dem Egerland dazu. Die Regierung erstellte einen Umsiedlungsplan. Wegen der schlimmen Wohnsituation meldeten wir uns 1953 dazu an und kamen nach Württemberg. Im Januar 1954 konnten wir in einer fertiggestellten Siedlung in Calw-Wimberg eine Wohnung beziehen. Später zogen wir nach Sindelfingen bzw. schließlich nach Aidlingen um.

Siegrid Krülle