Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges Teil X

Erschütternd und bewegend – Aidlinger erzählen

Die unglaubliche Geschichte des Herrn Uwe Köhler (2. Teil)

Meine weitere Zeit in Greifenberg mit dem Jungen Boris und den Russen

Nach dem Tod von Onkel und Tante Anfang März 1945 suchte ich in Greifenberg nach einer Bleibe. Ich landete schließlich bei netten Leuten mit Kindern. Alles hatte Hunger, und ich mit dem ältesten Sohn war Tag für Tag auf der Suche nach Essbarem. Dabei lernte ich „Boris“ kennen. Er war 13, ich war 11 und einen halben Kopf kleiner als er. Er war der Sohn des russischen Standortkommandanten einer Artillerieeinheit. Der Major sprach gut deutsch, als hätte er deutsche Vorfahren gehabt. Boris sprach ähnlich, aber nicht so gut wie der Vater. Ich war öfter bei ihnen, konnte bei der Offiziersfamilie aber nicht zum Schlafen bleiben, sondern schlief seit Juni 1945 bei der Mannschaft in der Kaserne. Ich wurde als Stallbursche angeheuert und musste mich um Pferde, die die Panjewagen und Geschütze zogen und Kühe kümmern. Ich bekam zu essen, und als mir die zerlumpten Kleider vom Leib fielen, hieß es, du brauchst was zum Anziehen. Der russische Schneider fertigte für mich einen Russenanzug an, der Schuhmacher Russenstiefelchen – alles keine Maßarbeit. Ich hatte einen Stern auf der Achsel und war damit russischer Unterleutnant, Boris mit zwei Sternen war russischer Oberleutnant. Er hatte eine Mauserpistole mit Munition. Wir durchstreiften Greifenberg und suchten nach allerlei Krimskram. Wenn wir auf Polenjungen trafen und die frech waren, beschimpfte er sie auf Russisch und schoss auch schon mal in die Luft. Ihm nutzte der Respekt, den alle vor dem Vater hatten, er war ein angesehener Mann.

Allein in Richtung Westen – mit einem selbst gebastelten Floß über die Oder

Als der Vater von Boris mit seiner Einheit 1946 nach Schneidemühl, ehemals Westpreußen, verlegt wurde, bin ich mitgegangen. Doch dann fragte ich ihn, ob ich von hier aus nicht nach Ostpreußen zurückkönne. „Da ist niemand mehr“, antwortete er und wollte wissen, ob ich noch andere Adressen habe. Die hatte ich und zwar im Kopf. Mein Vater hatte sie uns eingeimpft. „Ja“, sagte ich, „Tangermünde an der Elbe.“ „Du musst dorthin gehen“, machte mir Boris’ Vater klar. Er zeigte mir eine Deutschlandkarte mit der Aufteilung in die Zonen der Siegermächte. Ich bekam ein Dokument, eine Art Ausweis auf Russisch, er dachte wohl an Kontrollen auf dem Weg. Was ich vor allem dabei hatte, war meine Russenuniform. Ich konnte mit einem der Einheit überlassenen amerikanischen Truck bis Küstrin mitfahren, wurde aber vor der dortigen Oderbrücke abgesetzt. Auf der Ostseite seien Polen und auf der anderen Seite Russen, hieß es. Ich machte mich auf den Weg. Meine Behauptung „Ich bin kein Russe!“ glaubten mir die Polen nicht und versuchten zu telefonieren, um mich zurückzubringen.

Ich wurde am nächsten Tag auf einen LKW geladen. Wir fuhren auf einem Sandweg neben einer gepflasterten Hauptstraße, wie sie in der Gegend üblich sind, nach Osten. Nach etwa 10 km bin ich in einer Kurve von der klapprigen „Kiste“ einfach abgesprungen und schnell im Wald verschwunden. Dann auf Nebenwegen zurück an die Oder. Ich konnte nicht mehr über die Brücke, sondern bin auf der rechten Seite der Oder Richtung Norden marschiert, immer nahe dem Fluss. Wurde ich angesprochen, antwortete ich in Russisch. „Polnisch verstehe ich nicht“, sagte ich. Als „kleinen Russen“ mit meinen 1,3 m ließ man mich immer laufen. Ich wusste, du musst nach Stettin. Ich stellte mir vor, dort sei wie früher ein freier Übergang über die Oder. Schließlich habe ich mir mit Holz und Schilf ein Floß gebaut, mich nackt ausgezogen, die Klamotten befestigt und mich über die Oder treiben lassen. Ich wurde ein Stück abgetrieben und kam dann auf ostzonaler Seite an. Marschierte nun links der Oder weiter nordwärts. Die Uniform half mir auch hier sehr. Im Auffanglager in Stettin wurde ich nicht registriert und entlaust, hatte aber auf meinem kahl geschorenen Kopf auch gar keine Läuse. Ich hatte nur Kleiderläuse.

Angekommen – ein Bad und ein weißes Bett – ein Wiedersehen mit dem Bruder

Niemand hat mich aufgehalten. Auf einem Bahnsteig rief eine Frau aus dem Zug. „Na, Iwan, wo willst du hin?“ Ich sagte: „Ich bin kein Iwan, ich will zu meinen Eltern.“ „Komm, fahr mit nach Kiel in die englische Zone.“ Das tat ich, der Zug wurde verschlossen und ab ging die Fahrt Richtung Westen. In Kiel gab die Frau an, ich sei Deutscher, hatte aber keinerlei Begleitpapiere von Stettin. Ich habe auf Deutsch und Russisch geantwortet und geflucht, und man hat mich der englischen Militärpolizei übergeben. Da bekam ich so viel Schokolade, dass ich mich übergeben musste. Die Engländer bekamen Angst und brachten mich in ein für Engländer reserviertes Krankenhaus. Dort hatte ich wunderbare Erlebnisse – ich wurde gebadet und lag in einem weißen Bett! Ich wurde von den Engländern befragt und konnte glaubhaft erklären, dass ich Deutscher sei und meine Familie suche. Ich wurde den Deutschen übergeben, bekam jedoch meine Russenuniform nicht zurück, sondern wurde normal eingekleidet. Mit dem Roten Kreuz ging es per Bahn an die Nordsee nach Dagebüll vor der Insel Föhr ins Quarantänelager. 14 Tage später wurden wir auf die Insel Sylt nach Rantum in eine ehemalige Marinekaserne verlegt. Im August 1946 holte mich eine junge Frau ab und brachte mich über Hamburg nach Ingeleben bei Helmstedt in der britischen Zone zu meinem Onkel, der sich dorthin aus Tangermünde mit Familie und meinem ältesten Bruder abgesetzt hatte. Auf einem großen Bauernhof (weitläufige Verwandtschaft) arbeitete er als Verwalter, als Zuckerfachmann und Chemiker hatte er auch Kenntnisse im Zuckerrübenanbau und der Landwirtschaft. Ich konnte bei ihnen bleiben.

Traumatische Erinnerungen

Die schönen wie all die schlimmen Erfahrungen meiner Kinderzeit sind die Basis meines Lebens. Die Zeit bei den Russen nach Kriegsende hat etwa ein Jahr gedauert und ich zähle sie zu den schönen Zeiten. Ich hatte Essen, „Freunde“ und meine ersten Räusche vom Kartoffelschnaps, den die Russen selbst machten.

Über die schlimme Zeit in Greifenberg in den zwei Monaten davor konnte ich lange nicht reden. Wir lebten von Kartoffelschalen, nicht mehr einwandfreiem russischen Kommissbrot und anderem Abfall. Bis zum 8.5.1945 holten sich die Russen nachts die jungen Frauen. Sie schrieen. Die deutschen Soldaten, die sich in der Zuckerfabrik meines Onkels verschanzt hatten, waren eine SS-Einheit. Etwa 35 wurden gefangen. Sie wurden alle in einer benachbarten Villa in den Keller getrieben, vorher mussten sie mit Teppichen die Kellerschächte verschließen und mit Erde bedecken. Dann wurde das Haus in Brand gesteckt. Am 8.5.1945 jubelten die Russen: „Hitler kapuut!“

Gegenüber der Villa lag die Kaserne. Als im Spätfrühling zu den russischen auch polnische Einheiten in die Kaserne einzogen, wunderten sie sich über den ständigen Leichengeruch. Polnische Offiziere holten sich deutsche Frauen und uns Kinder, um diesen Zustand zu beenden. Frauen mussten im Garten ein Massengrab ausheben. Wir Jungen mussten die Kellerschächte freilegen und in den Keller einsteigen, um die Leichen rauszuholen. Dort habe ich mit meinen 11 Jahren zum ersten Mal tote Menschen angefasst. Es konnte passieren, dass man einen Arm packte und nur eine tote Hand in seiner Hand hatte. Auf der Kellertreppe war es am schlimmsten, dort lagen mindestens zwölf Menschen übereinander, die rausgewollt hatten. Die Russen durchsiebten mit ihren MPs die ganze Kellertür, und viele fanden so den Tod. Wir mussten die Toten rausklauben – ich habe genug Tote gesehen und geschleppt für mein Leben.

Nachdem ich 1946 in Ingeleben meinen Onkel, den Chemiker, mit seiner Familie und meinen ältesten Bruder gefunden hatte, kam ich dort auch gleich zur Schule. Es war eine zweiklassige Volksschule, alle Schüler waren in einem Raum. Der Lehrer fragte mich: „Welche Klasse?“ „In die 7.“ „Wann warst du das letzte Mal in der Schule?“ Ich musste an die Tafel und etwas schreiben und machte eine Menge Fehler. Alle lachten. Da habe ich wie wild die Kreide in die Klasse geworfen und auf Russisch geflucht. Alle waren still. Der Lehrer war als Soldat im Osten gewesen: „Uwe hat noch Schwierigkeiten, aber er kann eine fremde Sprache. Wer von euch kann das auch?“ Die Klasse blieb still und somit hatte ich gewonnen. Der Lehrer sagte noch zu mir, ich solle den Kindern nicht das Fluchen auf Russisch beibringen. Es seien schlimme Worte. 1948 habe ich nach der 8. Klasse meine Schulzeit in Ingeleben beendet. In Ingeleben habe ich auch vom Tod beider Eltern erfahren.

Uwe Köhler                                        Siegrid Krülle