Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges Teil IV

Pionierarbeit Wohnungsbau – Entstehen zweier neuer Ortsteile

Der Hilfsverband der Neubürger bzw. der Ortsverband des BdV brachten unter großem Einsatz den Wohnungsbau in Gang. Sie konnten damit befriedigende Wohnverhältnisse auch für die Zukunft schaffen. Rückblickend betrachtet war es eine gelungene und die wichtigste Maßnahme für die Integration der Vertriebenen. Selbsthilfe und gemeinschaftlicher Einsatz spielten dabei eine maßgebliche Rolle.

Zunächst sollten 20 Siedlungshäuser mit 40 Wohnungen in zwei Bauabschnitten im Osten des Ortes errichtet werden. Es kam darauf an, einen Bauträger zu finden (Siedlungsgesellschaft des Evangelischen Hilfswerks in Stuttgart) und Finanzierungsmittel für den Wohnungsbau zu erhalten. Der Furtmüller und Kreisrat Adolf Bauer war bei den Kontakten zu Bauträgern und Behörden behilflich. 1953 konnten die ersten Siedler ihre Häuser in der Blumenstraße beziehen. Das drängende Problem der Baulandbeschaffung löste sich, als Adolf Bauer 45 a Grund im Gewann Telle im Westen des Ortes günstig zur Verfügung stellte, 14 Bauinteressenten und Antragsteller bereit waren, die Erschließung auf eigene Kosten und in Eigenarbeit durchzuführen, und der Gemeinderat daraufhin einen eigenen Bebauungsplan aufstellte. Mit der Kreisbaugenossenschaft als Betreuungsunternehmen wurden entlang der heutigen Schiller- und der Uhlandstraße sowie im Osten in der Rosen- und Tulpenstraße Gebäude für Alt- wie Neubürger erbaut und zwischen 1948 und 1958 in Aidlingen insgesamt 286 Wohnungen fertig gestellt.

Mit Hilfe des sozialen Wohnungsbaus war es auch möglich, Vertriebene, die zuerst in Bayern oder sonstigen Bundesländern Aufnahme gefunden hatten, zum Zweck der Familienzusammenführung und der Arbeitsaufnahme in die Planung der Eigenheime einzubeziehen und damit die Finanzierung insgesamt zu erleichtern. Aus Topportz in der Zips/Slowakei zogen 30 Familien nach Aidlingen. Frau Helene Walentin, geb. 1922, war 1944 wegen der näher rückenden sowjetischen Front mit ihrem ersten Kind nach Karlsbad im damaligen Sudetenland geflüchtet. Sie traf mit ihrem Mann Michael (1918 – 1980), der im Januar 1945 per Treck ebenfalls geflüchtet, aber mit den übrigen Verwandten nach Kriegsende wieder in die Heimat zurückgekehrt war, erst nach der Vertreibung im Jahr 1946 wieder zusammen. Sie waren wohlhabende Bauern, der Vater Bürgermeister, und hatten einen Hof von 50 Hektar zurücklassen müssen. Sie ist heute 94 Jahre alt und erinnert sich:

Von Karlsbad aus mussten wir dann am 16. 5. 1946 in die amerikanische Besatzungszone, genauer nach Au-Hallertau in Bayern. Dort wohnten wir bis 31. 10. 1957. Wir waren sehr primitiv untergebracht und sind 1957, als wir bei einem Treffen in Augsburg von den in Aidlingen zu vergebenden Bauplätzen hörten, umgezogen. Hier gab es Arbeit,

und hier haben wir unser Haus gebaut, in dem wir anfangs alle wohnten, außer meinem Mann und mir sowie den beiden Söhnen auch meine Schwiegereltern und der Vater. Es war ein typisches Flüchtlingshaus, alle unterstützten einander. Mein Vater arbeitete wie die meisten bei Daimler. Mein Mann zog es aus gesundheitlichen Gründen vor, als Raupenführer auf dem Bau zu arbeiten; ideal war das für seine Beine aber auch nicht. Der Schwiegervater bekam eine VdK-Unterstützung, weil ihm im Ersten Weltkrieg Zehen abgefroren waren.

Aidlingen ist mir zur zweiten Heimat geworden. Ich bin froh, dass es in den fünfziger Jahren nicht zu der schon vorbereiteten Auswanderung nach Amerika gekommen ist.“

Einige Häuser mit rund 20 Mietwohnungen wurden in der Folgezeit noch gebaut und damit der Wohnraumbedarf für die Vertriebenen im Wesentlichen gedeckt. Nicht vergessen werden darf, dass das württembergisch-badische Gesetz zur Beschaffung von Siedlungsland vom 30.10.1946 neben der Erstellung von Kleinsiedlungen auch die Schaffung von Kleingärten vorsah. Allein in Aidlinger Ortsnähe entstanden an verschiedenen Stellen über 200 solcher 2 a großer Gärten, die anfangs vor allem die Ernährungssituation verbessern sollten.

Dr. Benno Kubin: „Ihr schafft es!“

Schon vor längerer Zeit, ich war selbst noch nicht lange in Aidlingen, kam ich vor dem Rathaus mit einer mir unbekannten Frau ins Gespräch.

Sie wohnen in der Nähe von den Kubins? Da muss ich ihnen etwas erzählen. Mein Mann und ich kamen mit vier Kindern nach dem Krieg nach Aidlingen. Mein Mann fuhr nach Stuttgart in die Arbeit. Da kam Dr. Kubin auf uns zu: ‚Habt ihr zu Hause in der Stadt oder auf dem Land gewohnt?’ ‚Auf dem Land.’ ‚Gut. Hättet ihr in der Stadt gewohnt, hätte ich euch zu einem Umzug in die Stadt geraten. So aber rate ich euch: Ihr bleibt und ihr baut.’ Es hat uns fast die Stimme verschlagen: ‚Das geht nicht, wir kommen mit unserem Geld gerade so über die Runden.’ Dr. Kubin aber blieb dabei: ‚Ihr schafft es. Und solltet ihr es einmal nicht schaffen, wird es irgendeine Hilfe geben.’ So haben wir gebaut und es geschafft. Ohne Dr. Kubin hätten wir das niemals gewagt. Ihm haben wir alles zu verdanken.“

Vielen Vertriebenen in Aidlingen hat er in ähnlicher Weise Mut gemacht und geholfen. Herr Dr. Benno Kubin ist 1915 in Brünn in der Tschechoslowakei geboren. Er war Jurist und wurde nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Leiter des Lastenausgleichsamts am Landratsamt Böblingen. Er war jahrzehntelang im Aidlinger Gemeinderat und BdV-Vorsitzender. Er erhielt das Bundesverdienstkreuz. Er hat sich für die Anliegen der Alt- wie der Neubürger eingesetzt. Nicht zuletzt hat er mit anderen Gleichgesinnten die Ostdeutsche Heimatstube im Hopfenhaus und damit nicht nur eine Stelle der Erinnerung für die Vertriebenen selbst, sondern auch eine Stelle der Information für alle Aidlinger geschaffen, darunter jene, die hier geboren sind, aber Vertriebene unter ihren Vorfahren und damit einen Teil ihrer Wurzeln in deren alter Heimat haben. Dr. Benno Kubin starb 2009. Er wäre Ende März 101 Jahre alt geworden.

Fortsetzung folgt

Siegrid Krülle