Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges Teil III

Eine neue Kirche und 300 neue Wohnungen im Osten und Westen von Aidlingen (Teil 1)**

Die Integration der Vertriebenen in ihren Ankunftsgebieten in der amerikanischen, britischen und sowjetischen Besatzungszone geschah nicht von heut auf morgen, sie war ein Prozess, der sich über die Jahre hinzog. Soziale, wirtschaftliche, kulturelle und auch persönliche Faktoren spielten eine Rolle.

Erste Verbesserung der Lebenssituation

Anfangs ging es angesichts des Mangels an Nahrung, Kleidung und Wohnung nur ums Überleben, hatten die Vertriebenen ja nicht mehr mitnehmen können, als was sie tragen konnten. Da wurde die aus der Aid geborgene alte Blechdose zum Küchentopf, war ein geschenktes Kleidungs- oder Möbelstück eine große Hilfe und bedeutete eine neue Unterkunft eine Verbesserung der Lebenssituation. Eine Aidlingerin erinnert sich an den „Aufstieg“ und an die weisen Worte ihrer Mutter:

Zuerst wohnte unsere Mutter mit uns Kindern im Gemeindehaus in der Bachgasse, zum Essen gingen wir in die Turnhalle, andere gingen ins Rössle, das Essen kam vom Mutterhaus. Ich war damals um die 8 Jahre alt und erinnere mich, dass ich immer Hunger hatte. Danach hatten wir eine der drei Wohnungen, die halb unter der Erde in der Kegelbahn einer Gastwirtschaft eingerichtet worden waren. Es war ein Fortschritt, als wir in der Pfarrgasse eine Wohnung mit zwei kleinen Zimmern und einer eigenen Küche bekamen. Inzwischen war auch mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Schließlich wohnten wir in einer der sieben Wohnungen, die 1951 in der umgebauten damaligen alten Schule entstanden waren. Meine Mutter sagte immer: ‚Nicht klagen, wir müssen das Beste daraus machen. Wären die Schwaben zu uns gekommen, hätte es die gleichen Schwierigkeiten gegeben.’ Wir hatten ja selbst schon unsere Erfahrungen gemacht, denn vor unserer Vertreibung waren auch bei uns in Mähren in der Tschechoslowakei bereits Flüchtlinge aus noch weiter östlich gelegenen Gebieten einquartiert. Genauso brachte sie uns zum Nachdenken, als wir später alle unsere eigenen Häuser hatten: ‚Stellt euch vor, es kommt einer und nimmt euch alles weg und ihr müsst ins Ungewisse gehen. Dann ahnt ihr, wie es 1945 war, und wisst, wie gut es uns jetzt geht.’“

Die Vertriebenen organisieren sich

Anfänglich waren die Flüchtlinge von Alteingesessenen betreut worden, von Gotthilf Weinbrenner in Aidlingen und von Wilhelm Röck in Deufringen. Die Vertriebenen waren jedoch bald bestrebt, die eigenen Interessen selbst in die Hand zu nehmen. In den Westzonen bzw. ab 1949 in der Bundesrepublik wurden Landsmannschaften gegründet, die in der Mitte der 50er Jahre zu einem Zusammenschluss im Bund der Vertriebenen (BdV) führten. Auch in den politischen Parteien und in Regierungsämtern waren die Vertriebenen schließlich vertreten. Als ein Vorläufer des BdV wurden hier vor Ort – in Aidlingen 1948, in Deufringen 1949 – der Hilfsverband der Neubürger gegründet, Deufringen hatte schon seit 1947 einen Flüchtlingsausschuss.

1000 Menschen brauchen eine Wohnung

Für die wirtschaftliche und soziale Eingliederung mag den „Umsiedlern“ in der sowjetischen Zone bzw. der DDR die Bodenreform zugute gekommen sein; in den Westzonen bzw. der BRD spielte nach der Währungsreform von 1948 der Lastenausgleich und der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung ab der 50er Jahre die Hauptrolle. Die Vertriebenen wirkten an diesem Aufschwung mit ihrem Einsatz- und Aufbauwillen entscheidend mit. Durch die günstige Arbeitsmarktlage waren die Voraussetzungen für das Fortkommen und die Eingliederung im hiesigen Raum besonders gut.

Durch den Zuzug der Flüchtlinge war zum Zeitpunkt der Währungsreform die Einwohnerzahl in Aidlingen von 1497 Personen im Jahr 1939 auf 2312 im Jahr 1950 (Zunahme 54 %) und auf 2577 im Jahr 1957 (Zunahme 72 %) gestiegen. In Deufringen sank die Zahl der Vertriebenen durch Abwanderung, man wollte näher am Arbeitsplatz wohnen. Ende 1946 waren von 776 Einwohnern 234 Heimatvertriebene (Zunahme 43 %). Die Zahl sank bis 1949 auf 205 und bis 1957 auf 165 Personen. An die 1000 Menschen brauchten jedenfalls um die Mitte des Jahrhunderts Wohnungen. Mit Unterkünften in Baracken, selbst wenn sie menschenwürdiger gewesen wären als die vorhandenen, ließ sich das Problem nicht lösen.

8200 unentgeltlich geleistete Arbeitsstunden für den Bau der eigenen Kirche

Zunächst aber wurde 1950 am Sonnenberg eine neue katholische Kirche gebaut Die zugezogenen Vertriebenen waren ganz überwiegend katholisch und hatten vorübergehend die Kirche der bis auf wenige Ausnahmen protestantischen Einheimischen mitbenützen dürfen. Der Neubau dieser neuen Kirche „Mariä Himmelfahrt“ ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil sie von den Vertriebenen im Wesentlichen in freiwilliger Eigenarbeit erbaut wurde. Hinzu kamen Spenden von den Vertriebenen selbst und auch von anderer Seite. Am Ende waren nur der Bauplatz und das Material zu bezahlen. Das machte 42.500 DM aus. Die eigene Kirche gab den Katholiken ein Stück Identität zurück, etwas Wichtiges, wenn ein Zusammenleben und Integration gelingen sollen.

Anm.

* Korrektur – Im Beitrag in der Ausgabe vom 22.3. (1. Forts.), vorletzte Zeile, muss es richtigerweise heißen: Pfarrer Joos.

** Zahlreiche Angaben stammen aus: Benno Kubin, Die Eingliederung der Vertriebenen in Aidlingen und seinen Teilgemeinden, in Ortschronik, S. 712 f.

Fortsetzung folgt

Siegrid Krülle