Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg

Matthias Groß auf den Spuren seines 1915 gefallenen Großvaters Karl Groß aus Lehenweiler

In der vor Weihnachten erschienenen letzten Ausgabe der Aidlinger Nachrichten konnten Sie den ersten Teil des Berichts von Matthias Groß lesen, in dem er dem Leben seines vor 100 Jahren gefallenen Großvaters wie auch dem Schicksal der weiteren Familie nachgeht. Der zweite Teil ist etwas Besonderes: Den Enkelsohn zieht es an die Orte des damaligen Kriegsgeschehens, er sucht letzte Spuren und Reste von einem Menschen, dem er sich über die Zeit hinweg verbunden fühlt. Er sammelt dabei Erfahrungen und Informationen, die vor allem für diejenigen interessant sein dürften, deren Väter, Großväter oder Urgroßväter im Ersten Weltkrieg ebenfalls in Flandern kämpften, starben… Es traf damals neben Karl Groß noch weitere junge Soldaten aus unseren Orten. (Siegrid Krülle)

Reise nach Flandern 16. – 18. Juni 2014 (Teil 2.1)

– Kriegsverlauf

Angeregt durch die Beschäftigung mit den alten Familiendokumenten unternahm ich kurz nach Pfingsten 2014 eine Fahrt nach Flandern, um einen persönlichen Eindruck von dem Ort zu erhalten, an den es den Großvater 100 Jahre früher verschlagen hatte und an dem er sein Leben verlor. Zum Auftakt einer Reihe von Gedenkveranstaltungen zum Beginn des 1. Weltkriegs vor einem Jahrhundert kamen übrigens eine Woche später die EU-Regierungschefs von ihrem Brüsseler Gipfeltreffen ebenfalls nach Ypern.

Der Name Ypern (heute flämisch „Ieper“) ist in Großbritannien und seinen ehemaligen Kolonien wohl noch immer allgemein bekannt. Er steht als Synonym für den grauenhaften Stellungskrieg in Flandern. Volle vier Jahre standen sich Deutsche und Soldaten des Britischen Empires am „Ypernbogen“ unmittelbar gegenüber. Französische und später US-amerikanische Einheiten waren in diesem Kampfgebiet zahlenmäßig vergleichsweise gering vertreten.

Die Deutschen hatten die topographisch erhöhten Positionen eingenommen, aber der strategisch entscheidende Vorstoß zur Küste und nach Nordfrankreich, den der „Schlieffenplan“ vorgesehen hatte, gelang nicht. Zum Ende des 1.Weltkriegs verlief die Front noch fast an derselben Position wie am Beginn. Hunderttausende waren umgekommen und die Region völlig verwüstet. Nachdem kein Durchbruch erzielt werden konnte, hatten die feindlichen Armeen sich eingegraben, gemauert, betoniert, ein System von Bunkern und Schützengräben angelegt, in denen sie monatelang vegetieren mussten. Der Boden kniehoch von einem Sumpf aus Wasser, Urin, Kot und Leichenteilen bedeckt. Cholera, Ruhr und Typhus breiteten sich aus, während Tonnen von Bomben, Minen, Granaten und Giftgas, den Landstrich völlig verwüsteten.

Die Stadt Ypern selbst wurde nie von den Deutschen eingenommen, aber bis 1918 völlig dem Erdboden gleichgemacht. Entgegen einem Vorschlag der Engländer, die entvölkerte und zerstörte Stadt in diesem Zustand als Mahnmal zu belassen, wurde Ypern, inklusive Vaubanscher Befestigungsanlagen, nach Kriegsende wieder originalgetreu aufgebaut. Im Mittelalter war die bedeutende Handelsmetropole Ypern mit 40 000 Einwohnern größer als London. Die Tuchhalle, mit ihrem imposanten 70 Meter hohen Bellfried, war im 13. Jhd. eines der größten Profangebäude der Welt.

Bis heute findet allabendlich am „Menen Tor“, dem Ehrenmal für die Soldaten des British Empire, an dem hunderttausende Namen in Stein gemeißelt sind, „the last post“ statt, die Ehrung der gefallenen und vermissten Soldaten. Täglich herrscht dabei ein enormer Andrang von Besuchergruppen, auch Schulklassen, aus Großbritannien, Irland, Canada, Neuseeland, Australien und selbst aus Indien.

Dementsprechend ist „The Great War“ in der ganzen Gegend noch allgegenwärtig und der Erinnerungstourismus boomt im Gedenkjahr 2014 besonders. Das Thema 1. Weltkrieg in Flandern wird in allen Facetten, meist mit den symbolischen Mohnblumen, auf flämisch, englisch und französisch von Souvenirläden, Reisebüros, Buchhandlungen und Antiquariaten dargeboten. Informationen in deutscher Sprache über Ypern und den Krieg befinden sich nur wenige darunter und man trifft auch kaum auf deutsche Touristen.

Tod bei Ypern

Das vergleichsweise kleine Territorium des heutigen Königreichs Belgien ist das Land der toten Soldaten. Kaum eine andere Weltregion musste im Laufe seiner Geschichte so zahlreiche Okkupationen, Schlachten und Zerstörungen erdulden. Die kriegerischen Konflikte reihen sich in einer langen Kette auf. Von den Kelten, Römern, Franken, Burgundern, Franzosen, Österreichern, Spaniern, über Napoleons Ende bei Waterloo, bis zu den deutschen Einmärschen im 1. und 2. Weltkrieg. Allein 180 000 deutsche Kriegstote beider Weltkriege ruhen in belgischer Erde.

Einer davon ist unser Großvater Karl, der bei Ypern, nach 9 Monaten Schützengraben, durch einen Volltreffer sein Leben verlor. Laut der offiziellen Todesnachricht seines Regiments, starb er den „Heldentod“ bei der „Bellewaarde Ferme“, einem Gutshof ca. 2 km östlich der Stadt Ypern. Heute befindet sich in diesem Areal, neben landwirtschaftlichen Flächen, ein großer Vergnügungspark.

Den alten Schriftstücken ist zu entnehmen, dass die Angehörigen von den militärischen Dienststellen Auskünfte über den genauen Ort seines Grabes verlangt und auch erhalten haben. Nach meiner Interpretation dieser Unterlagen haben die trauernden Hinterbliebenen Trost in der Bestätigung gesucht, dass ihr Ehemann, Sohn, Vater und Bruder eine würdige christliche Bestattung und eine bleibende letzte Ruhestätte erhielt. Wünschen wir es ihnen, dass sie sich ihr Bild von einem gepflegten Soldatengrab und der Einhaltung humanitärer Grundregeln bewahren konnten. Schmerz und Trauer der Angehörigen über den Kriegstod von Karl und Gotthilf, der beiden einzigen Männer der Familie Groß dieser Generation, waren bestimmt fürchterlich. Hätten sie die bittere Wahrheit über das verheerende Ausmaß von Kampf, Zerstörung und sinnlosem Leiden an dieser Front so unverbrämt erfahren, wie wir sie heute kennen, wäre ihr Leid womöglich noch größer gewesen.

Nach vier Jahren Stellungskrieg war das Bellewaarde-Gelände nur noch eine morastige, durchpflügte und unterminierte Kraterlandschaft. Oberirdische Spuren einer Grabstelle konnten sicher nirgends mehr ausfindig gemacht werden. Mohnblumen, das Symbol für den Krieg in Flandern, wurden wohl aus dem Grund die dominierende Vegetation in der Region, weil sie auf kaputtem, nährstoffarmem Boden bestens gedeihen.

Hatte die Dynamik der industriellen Revolution in den Jahrzehnten vor 1914 das Leben und die Gesellschaftsordnungen der Staaten, die jetzt Krieg gegeneinander führten, bereits radikal verändert, so sprengte das Grauen der „modernen“ Kriegsführung vermutlich die Vorstellungskraft der meisten Menschen fernab der Schlachtfelder. Der deutsche Einmarsch in Belgien im August 1914 erfolgte teilweise noch mit Kavallerie, Pickelhauben und Säbeln. Auch die Franzosen waren anfänglich mit folkloristischen Uniformen des 19. Jahrhunderts in blau, weiß, rot ausgestattet und erschienen dadurch als menschliche Zielscheiben an der Front. Wenige Monate später waren auf Seiten aller Kriegsgegner Tarnuniformen („Feldgrau“) und Stahlhelme, aber eben auch Giftgas, Panzer, Flammenwerfer, Kanonen, Maschinengewehre, Bomben und Flugzeuge im Einsatz. Um eigene Verluste zu vermindern, waren die Deutschen bereits mit Gasmasken und selbst mit Schutzmasken für Ihre Pferde ausgerüstet.

Der rasante Wandel der (waffen-)technischen Ausstattung und der gut organisierte Nachschub bei allen Kriegsparteien, steigerte die Wucht der Angriffe und Gegenangriffe, wodurch Verheerung und Vernichtung ein bis dahin ungekanntes Ausmaß annahmen. Dennoch oder gerade deswegen blieb an fast allen Fronten des 1. Weltkriegs eine festgefahrene Pattsituation bestehen.

Unter dem vorherrschenden Hurra-Patriotismus und der aggressiven Überheblichkeit, besonders auf Seiten des Deutschen Reiches, war den Verantwortlichen vermutlich nicht klar, welche Büchse der Pandora sie geöffnet hatten. Dass der deutsche Kaiser, der englische König und der russische Zar Cousins waren, kommt mir immer grotesk vor, wenn ich an diesen Krieg denke. Am 9. November 1911 warnte der SPD Vorsitzende August Bebel im Reichstag vor der Katastrophe eines Weltkriegs. Das Protokoll vermerkt dazu mehrfach „große Heiterkeit“ und den Zuruf von rechts: „Nach jedem Krieg wird es besser.“ Am 9. November 1918 endete der 1. Weltkrieg – und er war eine Katastrophe.

Matthias Groß, Dettenhausen