Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg – Teil V

Karl Groß aus Lehenweiler fiel 1915 in Frankreich –

ein Enkelsohn geht dem Schicksal des Großvaters und seiner Familie nach

Enkelsohn Matthias Groß hat uns dankenswerterweise seinen in den letzten Jahren entstandenen Erinnerungstext zur Verfügung gestellt, den wir in zwei Teilen veröffentlichen werden.

Der Geburtstag meines Vaters Otto Groß hat sich am 28. Januar 2014 zum 100sten Mal gejährt. Er kam zur Welt in einer versunkenen Epoche, als man grade noch nicht ahnte, dass die sog. wilhelminische Ära kurz vor ihrem Untergang stand. Fern und verschleiert erscheint die Lebenssituation der Menschen von damals, und unwillkürlich fällt mir die Anekdote ein, die mein Vater aufgeschrieben hat. Bis zum Ende der Monarchie wurde am 27. Januar selbst in Lehenweiler die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreichs gehisst, in seiner kindlichen Freude brachte er diese Besonderheit mit seinem bevorstehenden (vermutlich 4.) Geburtstag in Zusammenhang und war dann etwas enttäuscht, weil in erster Linie zum Geburtstag des Kaisers geflaggt worden war.

1914: Ein verhängnisvolles Jahr, in dem der Untergang einer ganzen Weltordnung seinen Lauf nahm. Ein Krieg wurde entfesselt, in dessen Verlauf 33 Staaten sich offiziell untereinander den Krieg erklärt hatten und nur 12 neutral blieben. In den beteiligten Ländern lebten 1,5 Mrd. Menschen oder 80 % der damaligen Weltbevölkerung. Am Ende standen 17 Millionen Tote, so dass man ihn danach als Weltkrieg/ La Grande Guerre/ The Great War bezeichnete.

Dank der aufbewahrten Familiendokumente lässt sich noch immer die Tür in die Vergangenheit einen Spalt weit öffnen und zumindest eine Ahnung vom unmittelbaren Schicksal unserer Vorfahren in dieser Zeit gewinnen.

Besonders deutlich tritt dabei mein Opa Karl Groß, dessen Vornamen ich auch trage, in Erscheinung. Einige Zeitungsartikel und abgedruckte Gedichte von ihm blieben im Original erhalten. Darüber hinaus sein Kriegs-Tagebuch und mehr als 60 Feldpostbriefe und -karten, die er in neun Monaten Fronteinsatz in Flandern an seine Angehörigen geschrieben hat. Seine Handschrift war außerordentlich schön, aber die alte Deutsche Schrift ist für den heutigen Leser nur mühsam zu entziffern. Das allmähliche Wort-für-Wort-Erschließen seiner Briefe entfaltet eine ganz eigentümliche Wirkung und lässt einen eintauchen in die Gedankenwelt des Großvaters. Trotz der gewaltigen Spanne zwischen seiner Lebenszeit und jetzt fühle ich mich ihm nahe. Für das, was er und seine Familie, nur zwei Generationen vor uns, durchgemacht haben, empfinde ich Mitleid.

Karl Groß, Bauer in Lehenweiler und zudem „Rechner“ der dortigen Molkereigenossenschaft, scheint ein schriftgewandter und musischer Mensch gewesen zu sein. Seine Briefe, Gedichte und Zeitungsartikel vermitteln das Bild eines gläubigen und strebsamen Mannes, mit wachem, eigenständigem Denken, aber auch einem empfindsamen Wesen.

Mit seiner Frau Marie, geb. Secker, (Verlobung 17.07.1907, Hochzeit 12.04.1909) hat ihn, nach den aufbewahrten Schriftstücken zu schließen, eine aufrichtige, tief empfundene Liebe verbunden. Auf der Rückseite eines Fotos von ihr, das er an der Front bei sich trug, hat er notiert: „Eine Frau gut und treu wie Gold und ich nicht wert, sie zu besitzen.“ Marie war 3 Jahre älter als Karl. Sie scheint eine sanfte, feinfühlige Frau gewesen zu sein. Bereits mit zwei Jahren verlor sie ihre Mutter. Der Vater, ein Schuhmacher, hat später wieder geheiratet und Marie wuchs wohl mit einer „guten“ Stiefmutter auf.

Ihre vier Buben Adolf, Hermann, Paul und Otto, die in ihren nur fünf gemeinsamen Ehejahren zur Welt kamen, betrachteten Karl und Marie, nach den Aufschrieben zu urteilen, als echtes Glück und Himmelsgeschenke. Bestimmt war ihre bäuerliche Existenz kein Zuckerschlecken. Harte körperliche Arbeit, die doch nur ein bescheidenes Auskommen ermöglichte, Genügsamkeit und Frömmigkeit bestimmten das alltägliche Dasein. Trotzdem spürt man beim Lesen, dass das Leben meiner Großeltern einen festen Halt mit Zufriedenheit, Harmonie und Optimismus hatte.

Leider hat sich ihre Hoffnung auf eine gute Zukunft nicht erfüllt. Wie Millionen anderer Männer wurde mein Großvater im Juli 1914 jäh aus seiner einigermaßen heilen Welt gerissen. Der jüngste Sohn, mein Vater Otto, war genau fünf Monate alt, als am 28. Juni 1914 das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand in Sarajevo verübt wurde. Die Lunte am Pulverfass war angezündet und Europa taumelte in die Katastrophe des 1. Weltkriegs. Bei der allgemeinen Mobilmachung im Juli 1914 wurde auch Karl sofort als Landsturmmann eingezogen.

Seine Dienstpflicht beim württembergischen Militär hatte er Jahre zuvor als Hornist bei der Militärmusik abgeleistet. Während ich in meiner Phantasie damit noch eine Atmosphäre von „guter alter Zeit“ verbinde, blieb in den folgenden unmenschlichen Materialschlachten und Stellungskriegen, bei denen erstmals auch „moderne“ Waffensysteme wie Mienenwerfer, Panzer und Flugzeuge eingesetzt wurden, von Soldatenromantik nicht mehr das Geringste übrig.

Seine Frau und seine vier Söhne hat mein Großvater nach Kriegsbeginn nur noch ein Mal wieder gesehen, als er im Februar 1915 nach einer Verwundung Heimaturlaub bekam. Gemäß seiner Aufschriebe hat er sich aber die feste Zuversicht auf ein Wiedersehen in einer anderen Welt bewahrt.

Er fiel am 16. Mai 1915, einen Tag nach seinem 34. Geburtstag, bei Ypern in Flandern (Belgien). Anrührend sein letzter Tagebucheintrag am Geburtstag, in dem er ahnungsvoll festgehalten hat: „Das neue Lebensjahr, was wird es bringen?“ Vor einem Einsatz in Russland hat er sich wohl besonders gefürchtet, opfern musste er sein junges Leben an einem der verheerendsten Kriegsschauplätze der Westfront.

Ypern bleibt im kollektiven Gedächtnis als Ort besonders erbitterter, langanhaltender und sinnloser Gefechte, ohne die Erzielung eines strategischen Erfolgs für eine der feindlichen Seiten. Genau an diesem Frontabschnitt, dem sog. „Ypernbogen“ setzten die Deutschen erstmals Giftgas als Waffe ein.

Bei Ansicht der ebenfalls aufbewahrten Todesnachricht, einem vorgedruckten Formular seines Regiments, das floskelhaft bestätigt, der Landwehrmann Karl Groß sei den Heldentod fürs Vaterland gestorben, trauere ich noch 99 Jahre später um diesen Menschen.

In dieser persönlichen Tragödie meiner Vorfahren manifestiert sich exemplarisch der Wahnsinn der Kriege des 20. Jahrhunderts. Die Menschheit hat offenbar keine Lehren aus der Geschichte gezogen, aktuell wurde gemeldet, dass im Jahr 2013 weltweit so viele militärische Auseinandersetzungen geführt wurden (meistens Bürgerkriege innerhalb eines Staates) wie seit dem Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr. Und während ich dies niederschreibe, herrscht Krieg unter anderem in Syrien, der Ukraine, zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen und, kaum in den Nachrichten erwähnt, in Libyen.

Von den 15 Kindern unserer Urgroßeltern Gottlob und Regina Groß haben lediglich neun das Erwachsenenalter erreicht. Und zwar mein Großvater Karl, zwei Brüder und sechs Schwestern von ihm. Nach Karl fiel ein Jahr später, am 05.07.1916, auch sein Bruder Gotthilf (Pionierbataillon Nr. 13) bei Charleroi in Frankreich. Der Bruder Gottlob, der als Wanderbursche in Kassel sesshaft wurde, starb bereits vor dem 1. Weltkrieg, die Umstände seines Todes sind mir leider nicht bekannt.

Der Urgroßmutter Regina, die früh ihren lungenkranken Mann verlor, der sechs Kinder im Säuglingsalter gestorben waren und der ein Arm amputiert werden musste, blieb es nicht erspart, auch noch erfahren zu müssen, dass ihre verbliebenen drei Söhne vor ihr das Leben lassen mussten. Sie starb 1916. Aus meiner sorgenfreien, sicheren und privilegierten Lebenssituation heraus fehlt mir die Vorstellungskraft, um zu ermessen, wie diese Frau derartige Schicksalsschläge verkraftet haben mag.

Keine drei Jahre, nachdem mein Opa umkam, starb am Ende des letzten Kriegswinters, am 20.03.1918, seine Frau Marie. Vermutlich an einer Krebserkrankung, für die es unter den damals herrschenden Umständen keine medizinische Hilfe gab. Marie sei an einem gebrochenen Herzen gestorben, wurde später von den Angehörigen gesagt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn Trauer und Verzweiflung mit ursächlich für ihren Tod mit nur 39 Jahren gewesen wären.

Noch während Krieg herrschte, blieben also mein Vater und seine Brüder, Adolf als Ältester mit gerade mal acht Jahren, als Vollwaisen zurück. Dass sie dank ihrer lieben, aufopferungsvollen Tanten, Schwestern des gefallenen Karl, gemeinsam in ihrem Elternhaus aufwachsen konnten, ist eine andere, ebenfalls bewegende Geschichte. Gemeinsam mit meinem Vater und seinen Brüdern wuchs noch ihr Cousin Walter auf, Sohn der Tante Sarah. Mit Adolf, Paul und Walter kamen wiederum drei dieser fünf Jungs als Soldaten im 2. Weltkrieg ums Leben!

Mein Vater Otto kehrte als Einziger lebend aus dem Krieg zurück. Als Oberleutnant im Afrikacorps des „Wüstenfuchs“ Feldmarschall Rommel, geriet er 1943 in amerikanische Gefangenschaft, so dass ihm die weiteren Kriegsgräuel in Europa erspart blieben. Sein Bruder Hermann, der als Daimler-Arbeiter „u.k.“ gestellt, d. h. nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde, hat gottseidank ebenfalls den 2. Weltkrieg überlebt.“

Matthias Groß, Dettenhausen