Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg – Teil IV

Ich bring den Bürgermeister um!“

Linhard Bauer geb. 1958, aus Lehenweiler war als kleiner Bub so manches Mal mit seinem Großvater Eugen Bauer, geb. 1901, aus Aidlingen unterwegs. Sie waren gute Freunde, und der Großvater erzählte ihm viel aus alten Zeiten. Einmal nahm er ihn zu seinem Stammtisch mit, erinnert sich Linhard. Da erzählte er seinen Stammtischkumpels, wie es damals im Ersten Weltkrieg gewesen sei, als nach dem Tod der älteren drei Brüder auch er, Eugen, der jüngste, noch in den Krieg eingezogen werden sollte. Da sei sein Vater Christian aufs Rathaus zum Bürgermeister gestürmt und habe gedroht: „Ich bringe dich um!“ Er, der kleine Linhard sei ganz erschrocken, aber auch voller Bewunderung für seinen Urgroßvater gewesen, der bereit war, für seinen Sohn so kompromisslos den Kampf mit der Obrigkeit aufzunehmen. Daher könne er dieses Stammtischerlebnis auch nicht vergessen. Nicht nur die Berichte, die Eugen an seine Kinder und Enkel weitergab, hielten die Erinnerung an die gefallenen Brüder wach – ein schön umrahmtes großes Bild, das die Portraits der Brüder in einer Fotomontage vereint und seither in den Wohnzimmern der Nachfahren hängt, ließ die Toten ebenfalls weiterleben. Die Eltern von Gefallenen ließen nach dem Ersten Weltkrieg häufig Heldengedenkfotos dieser Art anfertigen.

Dem Christian Michael Bauer und seiner Frau Barbara, geb. Wurster, beide geboren 1862, gehörte damals mitten in Aidlingen ein stattliches altes Anwesen, das an der Aidbrücke etwa zwischen dem „Adler“ und der heutigen Apotheke lag. „Brückenhaus“ wurde es auch genannt. Neben der Landwirtschaft gehörte ein Bäckereibetrieb zu dem Anwesen. Das war auch schon bei Christian Michaels Vater, dem Gottlieb Christian Bauer, geb. 1833, so gewesen, daher der Hofname „Baura-Bäck“ zur Unterscheidung von anderen Bauer-Familien im Ort.

Christian Michael Bauer und seine Frau Barbara hatten drei Töchter und vier Söhne. Die vier Söhne waren Friedrich, geb. 1890, Karl, geb. 1891, Gottlob, geb. 1893, und Eugen, geb. 1901. Sie waren es von klein an gewohnt, in der Landwirtschaft mitzuhelfen. Auf dem Acker zwischen Aidlingen und Lehenweiler, wo es besonders viele Steine und die meiste Arbeit gab, waren sie besonders häufig anzutreffen. Von Gottlob, der zugleich in Stuttgart eine Bäckerlehre machte, wird erzählt, er habe an einem heißen Tag bei der Arbeit auf dem Feld herumgebruddelt, das alles sei ihm zu viel, und dem Vater mitgeteilt, mit dem Acker könne er machen, was er wolle – und dann sei er gegangen.

Friedrich, Karl und Gottlob wurden im Ersten Weltkrieg eingezogen. Bald trafen nacheinander die Todesmeldungen ein. Friedrich und Karl fielen schon 1914, Gottlob 1915. Was es bedeutete, drei Söhne zu verlieren, kann wohl nur ermessen, wer Ähnliches erlebt hat. Sohn Eugen, geb. 1901, wurde – offenbar auf Grund der Aktion des verzweifelten Vaters – nicht mehr eingezogen.

Christian Michael Bauer und seine Frau mussten nicht nur den Tod von dreien ihrer Söhne ertragen, es passierte Christian bald ein weiteres Unglück. Ein bei der Arbeit zugezogenes schweres Rückenleiden zwang ihn, seinen Beruf aufzugeben. Am Ende war er auf den Rollstuhl angewiesen. Er hatte einen Platz am Fenster, von dem aus er das Leben auf der Straße beobachten konnte. Ansonsten las er – wie Wilfried Reichert, ein anderer in den 50er Jahren geborener Enkelsohn von Eugen, aus den Erzählungen seiner Mutter Margarete weiß – im Alten Testament „den Hiob“. In dieser Geschichte versuchte der Urgroßvater, Halt zu finden. Sie handelt von dem wohlhabend gewordenen Hiob, dem Gott alles nahm, um ihn auf seine Gottestreue zu prüfen.

Das väterliche Anwesen hatte inzwischen Sohn Eugen übernommen und einen Fuhrbetrieb eingerichtet. Ende 1938 zog Eugen mit seinem Betrieb in ein neues Gebäude in der Buchhaldenstraße um. Das alte Gebäude an der Aid stand dem geplanten veränderten Fluss- und Straßenverlauf im Wege und wurde abgerissen. Es blieb Christian und seiner Frau erspart, das noch zu erleben. Barbara starb im Februar 1938, das war zu viel für Christian. Er starb knapp zwei Wochen später in der vertrauten alten Umgebung seines Elternhauses.

Eugen Bauer mit Sohn Friedrich beim Straßenbau

Eugen Bauer lebte bis 1987 und seine Frau, eine Röck-Tochter aus Deufringen, bis 1978. Die Kinder haben sie im Alter sehr unterstützt. Von den drei Söhnen und drei Töchtern Luise, Friedrich, Wilhelm, Margarete, Agnes und Eugen, geboren zwischen 1925 und 1942, leben heute noch drei: Luise Ricart, die Älteste, die am Ende des Zweiten Weltkrieges einen französischen Kriegsgefangenen heiratete, Agnes in Maichingen und Eugen in Dachtel. Auch die Enkelkinder erhielten vom Großvater so manchen guten Rat fürs Leben. Linhard, Wilhelms Sohn, verriet er: „Du darfst nie erwachsen werden. Einem Kind verzeiht man alles, einem Erwachsenen nichts.“ Wilfried Reichert, Margaretes Sohn, wohnte in der Nähe und hat den Großvater oft im Alltag erlebt, er war im Sommer beim Klee- und Grasholen dabei, auch bei der Arbeit im Wald, wenn die Stämme auf ihre Nummerierung zu prüfen, für die Mitnahme auszuwählen und dann mit den Pferden bis zum Weg zu ziehen waren. Manchmal hat er den Großvater auch beim Abtransport von Papierholz zum Bahnhof nach Ehningen begleitet. Und wenn der Großvater gelegentlich auf dem Heimweg, nach einer kurzen Einkehr im Wirtshaus, auf seinem Pferdefuhrwerk einschlief und der Enkel ihn wecken wollte, ließ er sich kaum stören und wehrte ab: „Noi, noi – die Pferde sehen und hören alles, die finden den Weg von selber.“

So war er, der Eugen, den der Vater Christian Bauer ein halbes Jahrhundert früher vor dem Krieg gerettet hatte.

Siegrid Krülle

Fotos von Wilfried Reichert