Kindheitserinnerungen an Weihnachten 1944 und 1946 … Teil 1…

Für viele stehen frühere Weihnachtserlebnisse noch mit dem Krieg in Zusammenhang. So sind auch mir von allen Weihnachtsfesten meiner Kindheit Weihnachten 1944 und Weihnachten 1946 am deutlichsten in Erinnerung geblieben.

Weihnachten 1944: In großer heimatlicher Familienrunde

Unsere Familie war in Bärsdorf, einem Dorf in Niederschlesien, zu Hause. Mittelpunkt der Familie war der Bauernhof der Großeltern Emma und Heinrich Schubert. Auf dem Hof lebten auch Sohn Kurt mit seiner Frau und ihren drei Kindern. Sohn Gotthard und seine Frau, meine Eltern, wohnten mit uns drei kleinen Mädchen am anderen Ortsende. Wir sechs Kinder waren etwa alle gleich alt, zwischen 1937 und 1943 geboren. Zwischen unserer Wohnung und dem Hof der Großeltern spielte sich unsere frühen Kinderjahre ab. Kinderwagen, Schlitten, die
Hand der Mutter und die Schultern des Vaters halfen, den Weg bergauf zu den Großeltern zu bewältigen.

Wie jedes Familienfest wurde auch Weihnachten stets auf dem Hof der Großeltern gefeiert. Weihnachten 1944 stand unter einem besonderen Glücksstern. Beide Söhne hatten erstmalig seit Kriegsbeginn gleichzeitig Urlaub bekommen und konnten an Weihnachten zu Hause sein. Die allgemeine Freude spürten auch wir Kinder. Und so sehe ich meinen Vater und seinen Bruder in der Erinnerung bis heute wie von einem Zauber umgeben in der großen Bauernstube sitzen, wo sich alles Leben und auch der Weihnachtsabend abspielte.

Abends, als es dunkel war und der Großvater den Riegel vor die Haustür geschoben hatte, war die Stube angefüllt mit allen Verwandten und anderen Leuten, die zum Hof gehörten. Die Großeltern waren da, die Söhne mit ihren Familien, Oma Selma, die Mutter meiner Mutter, Martha, eine Schwester des Großvaters mit Ehemann aus einem Nachbarort, die Knechte Richard und Johann, Richards Mutter Pauline, die mit ihrem Webstuhl im Austragshäuschen lebte und bei der wir Kinder oft herumkletterten, Vera, die aus der Ukraine, und Meta, die aus Polen stammte, und noch ein paar Leute, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Alle scharten sich zunächst zum abendlichen Weihnachtsessen um den gedeckten großen Esstisch, der umgeben von Bänken in der einen Ecke der großen Bauernstube stand und für diesen Abend noch um ein Stück verlängert worden war. Bratwürste, Sauerkraut und Kartoffelbrei gab es, das war schon immer so gewesen und sollte sich auch in Zukunft nicht ändern. Zubereitet wurde das Essen auf dem großen Herd, der die gegenüberliegende Ecke einnahm und nebenbei den Raum in eine wohlige Wärme hüllte. Für mich war diese Familien- und Hofgemeinschaft mit all ihren Menschen etwas Unverbrüchliches, es erfüllte mich schon als kleines Kind mit Stolz, dass ich zu ihnen und sie zu mir gehörten.

Anschließend versammelten sich alle in der „guten“ Ecke, wo unsere Großmutter manchmal strickend auf dem Plüschsofa mit der geschwungenen Lehne saß oder sich auch besonderer Besuch niederließ. Darüber an der Wand tickte die Uhr und schwang unablässig der Perpendikel hin und her. Jetzt warteten alle voller Spannung auf den Weihnachtsmann. Kaum war der zur Tür hereingelassen worden und von allen Seiten bestaunt ins Lampenlicht unserer gemütlichen Ecke getreten, passierte Unerhörtes. Meine Schwester, vier Jahre alt, rief: „Das ist ja der Vater!“ Das löste bei uns Kindern großes Befremden aus – wie konnte sie nur so etwas Verwunderliches sagen! Genauso verwirrte uns aber auch der Schrecken der
Erwachsenen, die ebenso hilf- wie erfolglos versuchten, meine schluchzende Schwester zu einem Sinneswandel zu überreden. Sie blieb bei dem, was sie gesehen hatte.

Der Weihnachtsmann holte aus seinem Sack für uns Geschenke, bei denen unsere Mutter die Hand mit im Spiel gehabt hatte. Puppenkleider hatte sie genäht und kleine runde Taschen aus weißem und hellgrünem Bindegarn gewebt, das aus Großvaters Beständen stammte. Die Taschen, jeweils eine Puppe hineingebettet, sollten uns zehn Wochen später auf die Flucht begleiten. Höchst geehrt fühlte ich mich durch ein Taschentuch, hellblau umhäkelt, das mir Tante Johanna schenkte und das ich ihr fünfzig Jahre später zu ihrem 75. Geburtstag als Erinnerungsstück präsentieren konnte, die Spitze inzwischen reichlich zerschlissen. Das
interessanteste und begehrenswerteste aller Geschenke aber war eine Ritterburg, die inmitten des Tisches stand. Sie war für mich mit all ihren Aufbauten, Türmen und Figuren der Traum schlechthin – und doch meinem Zugriff entzogen, denn sie war ein Geschenk für meinen Vetter Wolfgang. Weder tröstete mich wirklich, dass ich damit ein paar Runden spielen durfte, noch dass er die Burg nach ein paar Wochen (als Geschenk fürs kommende Weihnachtsfest) wieder hergeben musste.

Wer ahnte bei all diesem Weihnachtsgeschehen, welches Unglück in den folgenden Wochen und Monaten über alle hereinbrechen würde, dass es diese Familienrunde nie wieder geben würde. Mein Vater schrieb Anfang Januar 1945 noch an seinen Bruder, es gehe bald zu Ende mit dem Krieg, das würden sie jetzt beide noch vollends schaffen. Drei Wochen später war er, weitere drei Wochen sein Bruder tot, der eine an der Oder beim Durchbruch der russischen Armee, der andere an der Grenze zu Frankreich gefallen. Und es ging weiter – Kriegsende, Flucht, Vertreibung, die Familie in alle Winde zerstreut. Die Großeltern hatten neben den
Söhnen auch beide Schwiegersöhne verloren, ein ganzer Zweig der Familie hatte sich beim Einmarsch der Russen das Leben genommen. Die Großeltern kamen im Sommer 1946 in die Ostzone. Der Großvater hütete Gänse bei den Bauern. Die Rüben, die er dafür bekam, wurden getrocknet und sollten helfen, den Winter zu überstehen.

 

von Siegrid Krülle