Ein Zipser Urgestein – Helene Walentin wird 95

Erinnerungen an ein langes Leben 

Frau Helene Walentin hat uns schon vor längerer Zeit aus ihrem Leben und dem in der Zips, ihrer Heimat, berichtet und so manches ist in unseren Beiträgen bereits zur Sprache gekommen. Nun wird sie 95, und noch immer trägt sie den Blick auf die nahe Hohe Tatra im Herzen, beeindruckt sie durch ihre geistige Beweglichkeit, strahlt sie Lebensmut und Humor aus. In ihrem Leben spiegelt sich das Schicksal der Deutschen aus der Zips wider, jener Region in der heutigen Slowakei, der die Ansiedlung Deutscher schon im 12. Jahrhundert zu großer wirtschaftlicher und kultureller Blüte verhalf und aus der die Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben wurden. Ein größerer Teil der Verwandtschaft ließ sich um dieselbe Zeit wie die Walentins in Aidlingen bzw. der Umgebung nieder. In der Familiengeschichte tauchen daher so manche Namen auf, die den älteren Aidlingern nicht unbekannt sein mögen.

Meine Familie zwischen Bauschendorf /Zips und Aidlingen 

Meine Eltern und weiteren Vorfahren

Frau Kobialka und ihre Töchter


Ich, Helene Walentin, bin am 12. 2. 1922 als Helene Kobialka in Bauschendorf in der Zips/Nordkarpaten in der heutigen Slowakei geboren. Ich hatte noch eine Zwillingsschwester Jolanthe, die 1956 mit ihrem Mann in die USA auswanderte. Sie ist vor einigen Jahren und unsere ältere Schwester Irene, geb. 1919, schon 1987 verstorben.

Meine Eltern sind Michael Kobialka und seine Ehefrau Anna, geb. Krempasky. Der Vater ist geboren 1894 in Bauschendorf, gestorben 1980 in Aidlingen, unsere Mutter ist geboren 1899 in Bauschendorf und gestorben 1947 in Gnevensdorf/Mecklenburg.

Die Großeltern mütterlicherweits waren Michael Krempasky (1871-1942) und Susanna Krempasky (1881-1937). Die Eltern von Großmutter Susanna Krempasky waren Johann Scholtz (1851-1922), und Maria Scholtz, geb. Galgon (1854-1939). Die zwei Brüder meiner Mutter hießen Johann bzw. Michael Krempasky.

Die Großeltern väterlicherseits waren Michael Kobialka, geb. 1863 in Topportz, gest. 1931 in Bauschendorf, und seine Frau Anna, geb. Neupauer, geb. 1869 in Bauschendorf und gestorben 1949 in Leipzig. Die Großeltern hatten 1889 geheiratet. Die Urgroßeltern waren zum einen Georg Kobialka (1834 – 1916) mit seiner Frau Susanne, geb. Münich (1832 – 1904), und zum anderen Thomas Neupauer (1839- 1912) mit seiner Frau Anna, geb. Adamy (1848 – 1931). Die Vorfahren Kobialka sind angeblich 1776 aus Polen nach Topportz eingewandert. Erst später, 1860, ist dann Urgroßvater Georg Kobialka von Topportz nach Bauschendorf gekommen, weil er da eingeheiratet hat.

Hier in Bauschendorf hat Großvater Michael Kobialka dann 1907 das „Kastell“ gekauft. Das war ein Riesenhof, der einmal einem Baron gehört hatte und später von meinem Großvater auf meinen Vater überging; etwa 50 Hektar Land gehörten dazu. Es war wunderbar. Wir hatten in unserem Haus runde, gewölbte Decken und Figuren wie in einer Kirche. Die Fenster hatten an der Außenseite schmiedeeiserne Gitter. Wir sind so gern in den Garten gegangen und dort bei der Mauer gesessen. Wir hatten eine schöne Jugend. Hier lebten wir, bis wir unsere Heimat 1944/45 verlassen mussten.

Heirat im Krieg
Mein Mann Michael Walentin stammte aus Topportz. Er ist am 24.5.1918 geboren. Sein Vater war Andreas Walentin, geb. 1893, Sohn von Johann Walentin und dessen Frau Anna, geb. Klein. Vaters Mutter war Katharina Walentin, geb. Roth, geb. 1897. Auch den Schwiegereltern ging es gut. Sie hatten zwei Häuser, 60 Hektar Land und wie auch wir zwei Paar Pferde im Stall.

Mein Mann und ich haben am 8. 6. 1941 in Bauschendorf geheiratet. Mein Mann heiratete bei uns ein, da die Eltern zu ihrem Leidwesen keinen Sohn hatten. Mich wollten sie eigentlich gar nicht, aber ich war von Anfang an eine zähe Natur und bin es bis heute. Mein Mann war ein sehr tüchtiger Bauer und zupackender Mann, er war auch gern Bauer – im Gegensatz zu meinem Vater, der eher alles mochte, was mit schriftlichen Sachen zusammenhing; er übte verschiedene Ämter aus und war in den letzten Jahren auch Bürgermeister. Mein Mann war für unseren Hof also ein Gewinn, aber zunächst einmal war er ab 22.6.1941 als Soldat im Krieg. Eine Nachbarin, es war eine Jüdin, Scherin hieß sie, ich werde das nie vergessen, tröstete mich: „Ach Ilusch, nimm dir das nicht so zu Herzen.“ Ich war mit meinen 19 ja noch ein Kind und kannte meinen Mann kaum. Er war ja aus einem anderen Ort und nur sonntags immer ein paar Stunden zu Besuch da gewesen. Als mein Mann aus dem Krieg auf Urlaub heimkam, war er mir ganz fremd. Glücklicherweise wurde er wegen eines Beinleidens (Krampfadern), das erblich war und ihm sein ganzes Leben Schwierigkeiten machte, nicht wie in der Regel die Volksdeutschen zur SS geholt. Wir waren ja Volks- und nicht Reichsdeutsche.

Unser Sohn Helmut ist am 27.10.1943 in Leutschau/Zips, unser Sohn Reinhold erst nach Krieg und Vertreibung am 16.3.1954 in Mainburg/Bayern geboren.

Helene Walentin mit ihrer Zwillingsschwester

Die Flucht aus Bauschendorf und das Schicksal der Rückkehrer
Wir hatten Glück. Ende Oktober 1944 (31.10.1944) sind wir wegen der herannahenden russischen Front und befürchteter Überfälle durch sowjetfreundliche slowakische Partisanen geflüchtet. Die Schulkinder waren schon im September evakuiert worden. Jetzt waren die Mütter mit Kleinkindern und die Alten dran.  

Die Lage war immer bedrohlicher geworden. Es fuhren Treckwagen durchs Dorf, und wir dachten, es seien Deutsche auf dem Rückzug aus Rußland, aber es waren Partisanen auf dem Weg ins Hauerland in der mittleren Slowakei. Im Hauerland war ein Partisanenaufstand, und dort ging man mit den Deutschen besonders schlimm um. In verschiedenen Ortschaften wurden alle Männer zwischen 16 und 80 erschossen. Der zwischenzeitlich verstorbene, auch hier bekannte Pfarrer Pöss war unter den Opfern, konnte sich aber unbemerkt aus einem Leichenberg befreien und davonlaufen. 

Unsere Fluchtroute führte über Zakopane, Krakau, Breslau und Chemnitz in das sudeten-deutsche Karlsbad. Bis Zakopane, der Grenzstation nach Polen, hat uns mein Mann im Lastwagen gebracht. Dort haben wir übernachtet. Er fuhr dann zurück. Wir Frauen, die Kinder und Alten, so ich mit dem kleinen Helmut und der Großmutter, sind mit den erlaubten 70 kg Gepäck im Zug weitergefahren. Schwester Jolanthe mit ihren zwei kleinen Kindern war auch dabei. Unterwegs in Polen wurden wir bombardiert, es war kritisch. 

In unserem Zielort bei Karlsbad sind wir zunächst geblieben. Wir haben dort bei einem Wagner eine schöne Wohnung bekommen, es waren nette Leute. Es war gebirgig und ähnlich wie zu Hause. Mein Kind habe ich 15 Monate gestillt, so war es gut versorgt. Der Ort bei Karlsbad war unser Treffpunkt. Meine Mutter Anna Kobialka war am 14.12.1944 mit einem Transport nach Reichenberg evakuiert worden und traf von dort in Karlsbad ein. Mein Mann, mein Vater und mein Schwager sind am 21.1. 1945 mit einem Treck in großer Kälte und unter Bombenhagel geflüchtet und dann in Karlsbad ebenfalls zu uns gestoßen.

Mein Glück war es, dass ich nach Kriegsende nicht wie die anderen nach Hause zurückgekehrt bin. Dadurch konnte ich alles retten, was ich an Gepäck mitgenommen und was mir mein Vater nach der Flucht noch in Kisten nachgeschickt hatte. Ich wundere mich noch heute, dass trotz des Krieges alles angekommen ist. Ich hatte ja eine große Aussteuer, das kam alles in die Kisten. Sogar das Bett und die Matratzen sind angekommen. Mein Mann blieb bei mir und dem Kind. Er hatte im Radio gehört, dass alles deutsche Vermögen beschlagnahmt worden war, und sah in der Heimat keine Zukunft mehr. 

Wie viele der Geflüchteten und Evakuierten aus unserer Gegend sind jedoch meine Eltern nach Kriegsende wieder in die Heimat zurückgekehrt. Mein Schwager überredete sie und versicherte meinem Vater, der ja zu Hause Bürgermeister war, es würde ihnen nichts passieren. Mein Schwager musste zurückkehren. Er hatte die Aufforderung erhalten, die „Riemen“ zurückzubringen, die er auf die Flucht mitgenommen hatte, die aber für den Betrieb seiner inzwischen beschlagnahmten Mühle und Sägemühle in Bauschendorf erforderlich waren. 

Die meisten der Rückkehrer wurden wie die Daheimgebliebenen behandelt und in Lager verbracht, wo es ihnen sehr schlecht ging, und dann 1946/47 enteignet und vertrieben. Mit Hilfe des benachbarten Juden Tannlich konnte mein Vater auf einem Gut arbeiten und dadurch der Einweisung in ein Lager entgehen. Viele unserer Leute landeten nach der Vertreibung in Mecklenburg in der sowjetischen Besatzungszone, so auch meine Eltern. Meine Mutter war krank und starb bald, obwohl sie noch so jung war, 48, es gab kaum medizinische Hilfe. Mein Vater kam durch Zuzug zu uns. 

Der Bruder meines Mannes ist in Krakau vermisst. Ich habe noch Briefe von ihm, auch andere, z. B. von meiner 1949 verstorbenen Großmutter, geschrieben in „Korinth“, und meiner kranken Mutter aus der Nachkriegszeit, das sind Heiligtümer für mich.

Von Bayern nach Aidlingen
Von Karlsbad aus mussten wir dann am 16.5.1946 in die amerikanische Besatzungszone, genauer nach Au-Hallertau in Bayern. Dort wohnten wir bis 31.10.1957. Wir waren sehr primitiv untergebracht und sind 1957 umgezogen, als wir bei einem Treffen in Augsburg von den in Aidlingen zu vergebenden Bauplätzen hörten. Hier gab es Arbeit. Und hier haben wir unser Haus gebaut, in dem wir anfangs alle wohnten, außer meinem Mann, mir und den beiden Söhnen auch meine Schwiegereltern und der Vater. Es war ein typisches Flüchtlingshaus, alle unterstützten einander. Mein Vater arbeitete wie die meisten bei Daimler. Mein Mann zog es aus gesundheitlichen Gründen vor, als Raupenführer auf dem Bau zu arbeiten; ideal war das für seine Beine aber auch nicht. Der Schwiegervater bekam eine VdK-Unterstützung, weil ihm im Ersten Weltkrieg Zehen abgefroren waren.  

Aidlingen ist mir zur zweiten Heimat geworden. Ich bin froh, dass es in den fünfziger Jahren nicht zu der schon vorbereiteten Auswanderung nach Amerika gekommen ist. Der Zuzug einer ganzen Reihe Verwandter und Bekannter aus der alten Heimat hat uns das Eingewöhnen in Aidlingen zusätzlich erleichtert. Ich habe sechs Enkel und auch schon mehrere Urenkel bekommen. Alle haben es zu etwas gebracht, und ich bin stolz auf sie.

 

Aufgeschrieben von Siegrid Krülle