Der Neujahrsbock oder „Auf unserer Lucht spukt es!“

Erinnerungen an ihre Kindheit in Ostpreußen

von Gertrud Haug-Gibson

Wenn das Spinnrad surrte, erzählte Grußmutter Märchen und Spukgeschichten. So war’s bei uns daheim. Wenn die Tage kürzer wurden und der Winter seinen Einzug hielt, holte unsere Großmutter den Spinnrocken hervor, setzte sich an den warmen Kachelofen und begann, Wolle zu spinnen. Wir Kinder liebten diese langen Abendstunden. Wir holten dann die Fußbänkchen oder unsere Kissen hervor, setzten uns zu Füßen der Großmutter und lauschten ihren Erzählungen. Nicht immer waren es Märchen, auch Spukgeschichten – die wahrscheinlich von einem Aberglauben herrührten – erzählten sich die Erwachsenen. Doch mir kamen diese Spukgeschichten auch immer etwas „märchenhaft“ vor, und Großmutter konnte mich damit kaum erschrecken – auch nicht vor dem „Buhlemann“, der sich angeblich abends in der Dämmerung draußen herumtrieb und kleine Kinder mit sich nahm. Meine ältere Schwester war da etwas ängstlicher.

Da erzählte Großmutter auch einmal etwas vom Neujahrsbock, der in der Silvesternacht sein Unwesen treiben, an die Fenster klopfen, auf dem Dachboden herumspuken und die Menschen erschrecken sollte. Doch zu Gesicht bekam man so eine Spukgestalt nie. Nun wohnten in unserer Nachbarschaft zwei Jungen, Brüder, die vorgaben, sehr mutig zu sein. Denen wollten wir einmal tüchtig „einheizen“. Meine Schwester, eine Schulfreundin und ich heckten den Plan aus, selbst den Neujahrsbock zu spielen. Da den Jungens unsere Abwesenheit auffallen würde, musste meine Freundin Ruth sich auf der Lucht (Anm.: Dachboden) verstecken. Hier sollte sie tüchtig herumspuken, poltern und wimmern. Einen Topf mit Wasser hatten wir auch auf dem Boden deponiert, denn das Wasser sollte Ruth den Jungens auf den Kopf schütten. Schnell liefen meine Schwester und ich nun zum Nachbarn und erzählten voller Spannung vom Neujahrsbock, der bei uns auf der Lucht herumspukte. Die beiden Jungens wollten es natürlich nicht glauben, aber wir baten sie, doch mal mitzukommen und nachzusehen, weil wir Angst hätten. Wir hatten auch gerade einen Zeitpunkt gewählt, als unser Vater nicht zu Hause war, denn der hätte uns den Hokuspokus schon ausgetrieben.

Als die Nachbarjungen nun bei uns im Haus waren, fing Ruth auf der Lucht an, tüchtig zu poltern und zu wimmern. „Das ist bestimmt eure Katze“, sagten die Jungens. „Eine Katze macht nicht solche Geräusche“, erwiderten wir. Das sahen sei ein. „Aber dann ist es wohl der Hund“ folgerten sie. „Nein, unser Hund liegt draußen in seiner Hütte, ihr könnt ja nachsehen“, antworteten wir schlagfertig. Als sie sich davon überzeugt hatten, meinte Dietmar, der ältere der beiden Brüder: „Leuchtet mir mal mit der Laterne, ich werde mal nachsehen.“ Auf dem Dachboden gab es kein Licht, so leuchteten wir mit einer Laterne die Treppe zum Boden hinauf. Dietmar stieg nun die Treppe empor, aber sehr langsam und vorsichtig. Der jüngere Bruder folgte ihm neugierig. Meine Schwester und ich konnten uns nun kaum noch das Lachen verkneifen, denn bald würde der Neujahrsbock (in Gestalt von Ruth) in Aktion treten. Und da gab es auch schon einen großen Patsch! Die beiden Jungens waren pudelnass. Bleich wie die Wand flüchteten sie die Treppe hinunter und waren natürlich furchtbar wütend, als wir in schallendes Gelächter ausbrachten. Auch der „Neujahrsbock“ auf der Lucht fing an zu lachen und zeigte seine wahre Gestalt. So hatten wir unsere Genugtuung, dass wir die Jungens einmal tüchtig hereingelegt hatten.

Über einen angeblichen Neujahrsbock konnten wir also nur lächeln. Aber trotzdem konnten wir nicht genug von Großmutters Geschichten hören, wenn wir uns an den langen Winterabenden um sie scharten und ihr beim leisen Surren des Spinnrades lauschten.