Das Schicksal einer Deufringer Familie um 1900

In Zeiten des Umbruches und auf dem Wege in die Moderne, zogen die Menschen um 1900 zu Tausenden in die Städte. Boten sich dort doch bessere Einkommens-quellen durch Ansiedlung von Fabriken und anderen Geschäften. Die sogenannte Landflucht begann. Noch gab es das Königreich Württemberg. Den Bürgern ging es nach vielen Hungersjahren wieder besser und man strebte nach Selbstbestimmung und eigener Freizeitgestaltung.
In dieser Zeit fanden sich in Stuttgart zwei junge Menschen, die beide aus ländlichem Hintergrund kamen. Karl Michael, bereits mit seinen Eltern in Stuttgart wohnend und gelernter Flaschner und Anna Maria, ein Hausmädchen in einem Stuttgarter Haushalt. Ob sie nun aus Liebe zusammen blieben oder weil 1889 bereits ein Kind unterwegs war, wissen wir nicht. Sicher ist nur, daß die beiden mit ihren 23 und 19 Jahren im Königreich Württemberg als Minderjährige galten und sie, da sie kein eigenes Heim vorweisen konnten, nicht heiraten durften. So mußte das Kind, ein Sohn, ledig auf die Welt kommen. Es dauerte gerade mal ein Jahr, als auch schon der zweite Sohn kam. Plötzlich bot sich die Gelegenheit zur Heirat. Die Mutter des jungen Vaters hatte ein kleines Häuschen in ihrem Heimatort Deufringen geerbte, daß als Wohnsitz dienen sollte. Sie heirateten offiziell 1892 in Deufringen und legitimierten somit die beiden ledigen Kinder und auch ihre Beziehung zueinander. Als Flaschner konnte Karl Michael seinen Beruf auch auf dem Land ausüben. Anna Maria verdiente mit Näharbeiten zum Familienetat etwas dazu. Ein höher liegender Garten hinter dem Haus, lieferte der Familie zusätzliche Lebensmittel. 1898 wurde dem Paar ein dritter Sohn geschenkt und rundete das kleine familiäre Glück ab.

Die Mutter Anna Maria, Sohn Ernst, Sohn Karl, Sohn Paul (v.l.n.r:)

Die Mutter Anna Maria, Sohn Ernst, Sohn Karl, Sohn Paul (v.l.n.r:)

Die kleine Familie lebte bescheiden aber einigermaßen gut. Obgleich die Aufnahme in die landwirtschaftlich christlich geprägte Dorfgemeinschaft, als Fremde und als bekennendes Mitglied in einer Arbeiterpartei, schwierig war. Der Deufringer Pfarrer überbrachte seinem Dekan damals die Nachricht, daß sich in seiner Gemeinde ein Flaschner aus Stuttgart mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Dorf niedergelassen hat und ein Sozialdemokrat ist, der der Kirche fern bleibt, obwohl er kirchlich verheiratet ist.

Da starb ganz plötzlich der junge Familienvater Ende des Jahres 1900 mit gerade einmal 34 Jahren. Nun stand die junge Witwe mit ihren drei Buben alleine da. Was nun und was tun, wird sie sich gedacht haben. Zurück in die Stadt oder gar zurück in ihren Heimatort Baltmannsweiler? Nein, sie hatte in Deufringen ihr Heim und ihre Zukunft. Und so schlug sie sich und ihre Jungs weiter mit Näh- und Gelegenheitsarbeiten durch und verbrauchte die wenigen Ersparnisse. Doch das Leben wurde immer schwieriger. Da bot sich die Gelegenheit für den mittleren Sohn, den Weg über den großen Teich zu machen. Verwandte in Amerika sollten Anlaufstelle für den 17 jährigen Paul sein. Am 28. Februar 1907 begann er die Reise von Deufringen über Mannheim nach Hamburg und von da mit dem Schiff nach New York. Dort angekommen schrieb er sogleich in die Heimat und berichtete über seine Reise und seine Erlebnisse. Anfangs kamen regelmäßig Briefe aus dem fernen Amerika in das kleine württembergische Dörfchen. Doch plötzlich war es still geworden und keine Nachricht fand mehr in die alte Heimat. Was war geschehen? Ein Unglück? Kein Interesse mehr an der Heimat? Es wurde nie aufgeklärt. Als sich keinerlei Lebenszeichen mehr fanden wurde Paul schließlich 1940 offiziell für tot erklärt.

Sohn Paul ist 1907 nach Amerika ausgewandert.

Sohn Paul ist 1907 nach Amerika ausgewandert.

Der älteste Sohn hatte ein anderes Schicksal, daß er mit vielen seines Alters in dieser Zeit teilte. Karl mußte 1914 in den Krieg ziehen und fürs Vaterland kämpfen. Die anfängliche Euphorie und Begeisterung für einen Krieg, wurde schon sehr bald zur bitteren und schmerzlichen Realität. Bereits schon am 27. Juni 1915 fiel Karl im Alter von 26 Jahren bei einem Gefecht im polnischen Patoki. Beinahe hätte auch den jüngsten Bruder Ernst das gleiche Schicksal getroffen, denn er wurde noch 1917 als junger Bursche zum Kriegsdienst eingezogen. Ernst überlebte den 1. Weltkrieg in den französischen Schützengräben und durfte nach Kriegsende in seine Heimat Deufringen zurückkehren. Seinen erlernten Beruf als Maurer konnte er nun weiter ausüben. Anfang der 20ger Jahre lernte er seine zukünftige Frau Luise kennen. Die gebürtige Gärtringerin wollte eigentlich gar nicht heiraten, aber wie so oft bei den Menschen, war bereits schon Nachwuchs unterwegs. Erst nach der Geburt des ersten Sohnes wurde 1923 geheiratet und Wohnung bezogen in dem vorher umgebauten Deufringer Häuschen. Dem Paar war großer Kinderreichtum geschenkt worden, denn zu dem ersten Kind sollten noch weitere 10 Kinder im Laufe der Jahre dazu kommen.

Die Verhältnisse in dem kleinen Häuschen im „Gässle“ wurden von Kind zu Kind enger.

Sohn Karl in seiner Uniform

Sohn Karl in seiner Uniform

Anfangs war die Mutter noch mit im Haus, doch diese starb 1926 im Alter von 56 Jahren.Ernst war ein strenger, dickköpfiger Freigeist. Er ließ sich in keine Schublade stecken. Als er durch die Erbschaft seiner Stuttgarter Großeltern etwas Geld bekam, kaufte er davon ein Motorrad. Das Motorrad sollte ihm jedoch 1936 zum Verhängnis werden, als er durch einen Unfall ein Bein verlor. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt durfte er mit einer einfachen hölzernen Beinprothese wieder nach Hause. Seinen Beruf als Maurer konnte er nun als Vollzeitkraft nicht mehr ausüben. Er ließ sich durch den Schicksalsschlag nicht unterkriegen und überlegte sich, wie es sich als Invalide eine adäquate Einkommensquelle erschließen ließe. Kurzentschlossen richtete er im Untergeschoss des kleinen Häuschens eine kleine Stube ein und wurde Frisör. Als Beinamputierter mußte er nicht in den zweiten Weltkrieg ziehen. Da Gewölbekeller für Luftschutzzwecke im Gässle rar waren, erhielt er den Auftrag vom Landratsamt Böblingen, einen kleinen Bunker in den Hang etwas außerhalb Richtung Aidlingen zu mauern. Er selbst jedoch ging nie bei einem Luftangriff in diesen Bunker, da er sein Haus nicht alleine lassen wollte. In der Nazizeit mußte er einmal für etliche Wochen in Haft, weil er einen verbotenen Radiosender hörte und durch einen Nachbarn angezeigt wurde. Nach dem Krieg versuchte er seine Familie mit schwarzer Schnapsbrennerei durch zu bringen. Man bot ihm nach dem Krieg die Aufgabe des Nachkriegsbürgermeisters an, was er allerdings ablehnte. Er hatte immer starke Phantomschmerzen und versuchte diese oft mit Alkohol zu lindern.

Er starb 1956 und wurde auf dem alten Deufringer Friedhof begraben. Durch seine 11 Kinder hatte er später 19 Enkel und 29 Urenkel und noch mehr Ur-Urenkel.Sohn Ernst

Text und Bilder von Andreas Wolf