90 Jahre Leben in Aidlingen – Willi Gerlach blickt zurück – Teil 1

Der Zufriedene hat alles – und ich bin zufrieden“

Ich habe kürzlich im Kreis meiner Familie meinen 90. Geburtstag feiern können. Wer fehlte, war meine Frau Lieselotte, geb. Reichert, die leider im letzten Jahr verstorben ist. Je älter man wird, umso mehr gehen die Gedanken zurück an das, was man alles erlebt hat. Ich bin am 16.9.1927 in Sindelfingen geboren. Bis auf zwei Jahre während des Krieges habe ich immer in Aidlingen gelebt. Meine und auch die Vorfahren meiner Frau stammen aus alten Aidlinger Familien.

Die Eltern

Meine Eltern waren die Menschen, die mich am meisten geprägt haben. Mein Vater war Wilhelm Gerlach, geb. am 22.1.189. Er war wie schon mein Großvater und mein Urgroßvater Schuhmachermeister. (1)

Mein Vater war in vielem mein Vorbild. Er war ein starker, sportlicher Mann, 1,90 m groß, wog 100 kg, und war vor dem 1. Weltkrieg ein guter Ringer in Stuttgart. Er war Gründungsmitglied in Aidlingen des Sportvereins und des Radfahrervereins. Mein Vater hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Fahrrad, eines der ersten, die es in Aidlingen gab, später durfte ich damit fahren. Er war ebenso Gründungsmitglied beim Arbeitergesangsverein und beim Geflügelzuchtverein. Die Mitglieder in den damals gegründeten Vereinen kamen eher aus dem Kreis der Handwerker und Arbeiter, Bauern waren es weniger. Mein Vater war auch in der SPD aktiv. Er war kein Nazi. Er war politisch interessiert, war ehrlich, das sind Politiker heute nicht. Es gab politische Gespräche, im Ort aber keine Parteistreitigkeiten. Männer mit Ehrlichkeit voran, das war die wichtigste Devise meines Vaters.

Er war von 1911 – 20 als Marinesoldat im Einsatz. Er war mit dem Kreuzer Gewen in der Türkei. Dort wurde der Kreuzer zum Ausgleich von Kriegsschulden an die Türkei verkauft. Nach der Rückkehr hat mein Vater die berühmt-berüchtigte Schlacht im Skagerrak  (31.5./1.6.1916) mitgemacht, bei der die Deutschen letztendlich gegen die Engländer siegten. Auf beiden Seiten gab es ungeheure Verluste. Tausende von Marinesoldaten kamen um, mein Vater wurde wie durch ein Wunder nach der Versenkung seines Schiffes noch aus dem Meer gefischt. Nach dem Krieg war er in dem Gebiet zum Minensuchen eingesetzt. Mein Vater wurde mit fast 53 Jahren im Zweiten Weltkrieg nochmals eingezogen. Auf Sylt war er auf einem Öltanker im Einsatz, der U-Boote mit Wasser versorgte. Er kam als Kriegsgefangener nach Bad Kreuznach in einem Hungerlager der Amerikaner und wog am Ende keine 60 kg mehr. Gottseidank überlebte er auch diesmal.

Als mein Vater mit 65 Rente bekam, wandte er sich an den Parteivorsitzenden Ollenhauer und beschwerte sich, dass seine Rente zu gering und sein 12-14-jähriger Kriegsdienst unberücksichtigt geblieben sei. Ollenhauer antwortete, die SPD sei nicht schuld, dass er so lange im Krieg gewesen sei. Daraufhin trat mein Vater aus der SPD aus.

Meine Mutter war Pauline Gerlach, geb. Stürner, geb. 19.12.1894. Ihr Elternhaus war in der Nähe vom „Lamm“. Sie war eines von dreizehn Kindern. Meine Mutter zeichnete sich dadurch aus, dass sie 100%ig die Familie zusammenhielt. Sie kümmerte sich um jeden, auch aus der weiteren Familie, der sie brauchte und handelte nach dem Motto „Mehr geben als nehmen“. Fünf Brüder waren im Krieg, einer ist gefallen. Der Vater meiner Mutter, Jakob Stürner, hatte die Molkerei am Ort, Sohn Karl Stürner, er wohnte in der Hirschgasse, war Molkereifahrer. Er hatte die Milch nach Ehningen zu transportieren.

Mein Elternhaus hier in Aidlingen steht noch, es ist der mittlere Teil eines Dreispänners in der Böblinger Straße links von Reifen-Hiller. Mein Vater hat 1923 gebaut. Rechts war Haug; mein Vater und Ernst Vetter haben in der Mitte bzw. links angebaut. Mein Vater baute 1927/28 noch eine Werkstatt und einen Schuhladen an. Ernst Vetter neben uns machte ein Geschäft mit Fahrrädern, dann auch mit Motorrädern auf. Das war der Vorgänger der Autofirma nebst Tankstelle, die nach dem Krieg auf der anderen Straßenseite Sohn Heinz Vetter und seine Frau Helga besaßen.

Meine Frau und meine Kinder

Meine verstorbene Frau Lieselotte (1929 – 2016), geborene Reichert, stammte aus der Gaststätte und Metzgerei „Traube“. Die “Traube“ war seit 1919  im Reichert’schen Familienbesitz (vorher Eisenhardt). Es war die beste Wirtschaft vom Ort. Die Schwiegermutter war eine hervorragende Köchin, die aus allem etwas gemacht hat. Die Schwiegereltern hatten sechs Kinder. Von den vier Brüdern meiner Frau sind drei gefallen. Der schwer verwundet zurückgekehrte Bruder Alfred, gelernter Bäcker und Konditor, sattelte um und übernahm das Geschäft. Er hatte es gelernt, mit den Händen zu schaffen, das kam ihm zugute. Ich beobachtete, wie er von Zeit zu Zeit mit den Händen über den vorbereiteten Teig für Salami oder Schwartenmagen strich. Das war eines seiner Geheimnisse, so kam seine einmalige Wurst zustande. Ella, die Schwester meiner Frau, hat später den Taxiunternehmer Benz geheiratet und das Café Benz  (später Ortsbücherei) betrieben.

Meine Frau Lieselotte fiel schon früh als sehr gute Sängerin auf. Wenn sie in irgendeiner geselligen Runde auftauchte, hieß es immer: „Liesel, du musst uns ein Ständle singen.“ Ich finde es schade, dass sie nie eine Gesangsausbildung machen konnte. Wir beide heirateten nach dem Krieg, seither stand sie mir tatkräftig zur Seite. Ohne sie hätten wir es mit unserem in den 70er Jahren eingerichteten neuen Geschäft nicht so weit gebracht.

Wir beide haben zwei Söhne und zwei Töchter bekommen, Joachim war nun derjenige, der Klavier- und Gesangsunterricht bekam. Fußball war jedoch sein Hobby, er hat sogar eine Trainerausbildung in Köln gemacht. Hauptberuflich wurde er Versicherungskaufmann. Sohn Martin ist in meine Fußstapfen getreten und Orthopädieschuhmacher geworden. Tochter Ute ist in Horb verheiratet und Tochter Christine hat unser Geschäft übernommen. Ich kann rundum nur zufrieden sein, auch mit dem Werdegang meiner Kinder. Sie kümmern sich, auch seit ich gesundheitlich etwas angeschlagen bin, sehr um mich.

Anmerkung: (1) Vom Großvater, dem „Schumacher und Schuhhändler Gerlach“ stammt folgende Anzeige im Böblinger Boten vom 10.10.1889: „Aidlingen Geschäfts-Empfehlung. Einem geehrten Publikum von hier und Umgegend beehre ich mich anzuzeigen, daß ich von heute ab ein von der Schuhfabrik Weil der Stadt bezogenes Lager in allen Sorten Schuhwaren halte und dasselbe geneigter Ansicht und Abnahme empfehle. Reparaturen werden von mir billigst besorgt. Den 10. Oktober 1889. Friedrich Gerlach, Schuhmacher.“ Es gab in Aidlingen um diese Zeit immerhin 20 Schuhmacher. Schuhmachermeister Friedrich Gerlach war von 1919/1928 auch Gemeinderatsmitglied der Vereinigten Bürgerlichen Parteien. S. Ortschronik, S. 482, 486, 650.

Aufgeschrieben von Siegrid Krülle