90 Jahre Leben in Aidlingen – Willi Gerlach blickt zurück – Teil 2

Das Leben im Dorf

Altes Ortsbild

Ich bin in Aidlingen in den Kindergarten und dann in die Schule gegangen und dazu immer in das damalige alte Schulhaus neben der Kirche marschiert. Auf meinem Weg kam ich an Gebäuden vorbei, die es heute nicht mehr gibt. Dort wo sich z. B. heute in der Böblinger Straße eine Physiotherapeutenpraxis befindet und zuvor das Geschäft Netto war, stand ursprünglich das bei Kriegsende zerstörte alte Aidlinger Schafhaus des Schäfers Schilling. Die Schäferei Schilling zog sich ein ganzes Stück Richtung Ortsausgang hin. Der Schäfer mit Familie wohnte im angrenzenden Wohngebäude. Ein Stück weiter – dort, wo sich die Böblinger Straße zum Marktplatz sehr verengte – hatte die stattliche alte Bauern- und frühere Gastwirtschaft Walker („Zum Hasen“) ihren Platz. Sie fiel um 1970 dem Straßenausbau zum Opfer. Auf dem Gelände Walker wurden dann die Post, mein neues Haus und Schuhgeschäft und auch die Kreissparkasse errichtet. Das sind nur Beispiele. Das Ortsbild hat sich durch die zahlreichen Neubauten der Nachkriegszeit an vielen weiteren Stellen verändert.

Diakonissen und Kirche als Wegbegleiter

Im Aidlinger Leben spielten und spielen die Kirche und die Aidlinger Diakonissen eine wichtige Rolle. Wir hatten eine Diakonisse als Kindergärtnerin. Mit den Diakonissen war ich durch mein Geschäft auch später immer in gutem Kontakt. Das Mutterhaus hat sehr viel für Aidlingen getan. Ich habe trotzdem so manches an Problemen und Vorbehalten mitbekommen. Einflussnahme schätzte schon mein Vater nicht und ich auch nicht. Mich besuchen immer wieder Schwestern, da reden wir stets offen miteinander.

Wie mein Vater erzählte, wurde das Mutterhaus in den 20er Jahren im Haus der Glaserei Weinbrenner, in der Hinterhagstraße gegenüber dem „Lamm“, gegründet. (1) Frau Weinbrenner hatte damit zu tun. Eine Tochter wurde Diakonisse. Mein Vater und erst recht der Vater Weinbrenner waren nicht dafür; mit engstirniger Frömmigkeit, wie sie meinten, wollten sie nichts zu tun haben.

Mein Vater stand der Kirche ganz allgemein skeptisch gegenüber. Zu dem aufgeschlossenen Pfarrer Ringwald (2) sagte er einmal, 70 % der Kirchenbesucher glaubten nicht, was er in seinen Predigten sage. Pfarrer Ringwald antwortete, nicht mit 70, aber mit 50 % sei er einverstanden. Sein Nachfolger Pfarrer Gross war wesentlich strenger.

Dorfgemeinschaft

Soweit ich es erlebt habe, hatten wir immer eine 100%ig gute Dorfgemeinschaft. Aidlingen war im Kreis das Dorf, in welches jeder gern gekommen ist. Wir hatten einen Doktor, eine Apotheke, das Kaufhaus Roller und noch einige kleinere Geschäfte. Alles war da und hat funktioniert. Eines stelle ich heute fest: Ein Café hat gefehlt. Und wenn es heute einen Neubau gibt, bedauere ich, dass man beim Bauen keinen Handwerker von hier einbezogen hat. Das wäre früher nicht vorgekommen. Es war Ehrensache, dass man die Handwerker aus dem Ort genommen hat.

Es lebten im Großen und Ganzen alle zufrieden miteinander. Man hat miteinander geschwätzt, und das ist bis heute so geblieben. Ich habe nicht gemerkt, dass früher etwa die reicheren auf die ärmeren Bauern oder die auf die Handwerker herabgeschaut hätten. Alle waren gleich angesehen. In einem kleinen Dorf wie dem unseren waren Handwerker und Bauern aufeinander angewiesen. Man raufte sich zusammen.

Es gab einige Großbauern bei uns, die Mehrzahl der Bauern hatte aber nur Höfe mit 4 – 6 Hektar Grund und 4 – 6 Kühen oder weniger. Und es ging bei den meisten knapp zu, vor allem im Geldbeutel. Da kam es schon vor, dass so ein armer Bauer im Geschäft zur Bezahlung seiner Stumpen ein, zwei Eier aus der Hosentasche zog, die er sich heimlich aus dem heimatlichen Stall geholt hatte. Es kam z. B. auch vor, dass „der Jud“ eine Kuh reingestellt hat auf Zeit. Der Bauer musste die Kuh füttern und bekam dafür die Milch, der Jud hat sich dann aber das Kalb abgeholt. Seit den 20/30er Jahren fuhren viele der kleinen Bauern zum Daimler oder in eine andere Firma in die Arbeit. Da gab’s bares Geld auf die Hand. Eine ganze Kette von Aidlinger Wirtschaften lockte damals an den Zahltagen die Durstigen zur Einkehr. Für den, der aus Böblingen kam, waren das nacheinander die „Sonne“, der „Hasen“, der „Löwe“, der „Adler“, das „Rössle“, die „Traube“, das „Lamm“, das „Waldhorn“, die „Krone“, der „Hirsch“. Nicht jede dieser Wirtschaften hatte durchgehenden Gasthausbetrieb, ein Bier gab’s jedoch immer. Da mag auch manchmal auf den Tisch gekommen sein, was man beim Nachbarn alles beobachtet hatte – das enge Zusammenleben hatte auch seine Schattenseiten.

Andererseits war es die Grundlage dafür, dass so manche alten Gewohnheiten und Bräuche erhalten blieben, oft bis heute. Zu einer Hochzeit wurde geladen, trotzdem konnte jeder in die Kirche kommen und auch ohne besondere Einladung danach mit in die Wirtschaft gehen. Bei Beerdigungen war und ist es ähnlich. Und natürlich kam der Zusammenhalt im Dorf dem regen jungen Vereinsleben zugute.

Namen der Turner:

Hintere Reihe von links: Glaser Alfred, Schullehrer Kern, Weinbrenner Gotthilf, Löffler Gotthilf, Maurer Jakob, Rathausschreibgehilfe Fichert

Vordere Reihe links: Gerlach Wilhelm (Vater); Mitte: Stürner Otto; rechts: Binder Wilhelm

Anmerkungen:

(1) Vgl. dazu Ortschronik, S. 667

(2): Pfarrer in Aidlingen 1938 – 1950

Aufgeschrieben von Siegrid Krülle