Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Teil II

Ankunft, Neuanfang und Aufbau in Aidlingen

Zehntausende von Flüchtlingen aus dem Osten waren in den hiesigen Gebieten schon vor dem Kriegsende eingetroffen, die große Zahl der Vertriebenen aber traf 1946 ein, ein Rest in den Folgejahren. Weitere zogen in späteren Jahren zu. Die Ankömmlinge insbesondere von 1946 waren oft schon wochen- und monatelang unterwegs, hatten Verfolgungen und Demütigungen in der Heimat, Aufenthalte in Sammellagern und  Transporte in Güterzügen mit etwa 40 Viehwaggons hinter sich, in denen jeweils etwa 30 Personen mit ihren erlaubten 50 kg Gepäck zusammengepfercht waren. In Deutschland kamen die Vertriebenen zunächst in Auffang- bzw. Durchgangslager. Wer in den Kreis Böblingen zuzog, kam ins Durchgangslager Unterjettingen und wurde dort ärztlich untersucht, registriert und gegebenenfalls als Arbeitssuchender erfasst. Diejenigen Vertriebenen, die Aidlingen zugewiesen waren, wurden mit LKWs hierher gebracht. Man kann sich vorstellen, dass nun die Hoffnung auf ein sicheres Dach über dem Kopf und auf einen Arbeitsplatz, um aus dem Elend wieder herauszukommen, im Vordergrund aller Erwartungen stand.

Ein Willkommen, das nichts kostet

Manchmal reichte schon eine Geste, um sich angenommen zu fühlen. Herr Matthias Wagner (1934 – 2004),  bei der Ankunft in Aidlingen 12 Jahre alt, erzählte einmal, dass seine Transportkolonne in der Böblinger Straße Halt machte und sein Wagen genau vor einer Haustür zum Stehen kam. Eine Frau eilte heraus, hob ihn vom Wagen herunter, nahm ihn in die Arme und mit ins Haus: Du bleibst bei mir. Von da an habe er sich in Aidlingen zu Hause gefühlt. Es war die Sonnenwirtin Else Theurer, an deren Beispiel man sieht, was offene Arme für ein Menschenleben bedeuten können. Matthias Wagner hat sich später um das Gemeindearchiv sehr verdient gemacht.

Das Wohnungsproblem. Ausweichquartiere und Barackenlager

Angesichts der steigenden Zahlen standen dem Flüchtlingsobmann und der nachfolgend eingesetzten Wohnungskommission nicht genügend Privaträume für eine Zuweisung an die Ankömmlinge zur Verfügung. Die Turnhalle in der Talstraße, der Saal des Gemeindehauses der evangelischen Kirche in der Bachgasse, und die Säle in den Gastwirtschaften nicht nur beim „Adler“, sondern auch beim „Hirsch“ wurden als Ausweichquartiere verwendet. Die „Kellerhütte“ in der Oberen Straße und z. B. später auch die alte Schule wurden zu Wohnzwecken hergerichtet. Trotzdem mussten in der Böblinger Straße und auf dem Sonnenberg noch Barackenquartiere eingerichtet werden. In Deufringen musste man ebenfalls auf Notquartiere ausweichen, Ställe, den Schulsaal, Räume im Rathaus.
Es war ein Wunder, dass nach der Währungsreform die ersten schon wieder an eigene vier Wände denken konnten.
Der Lastenausgleich, ein einigermaßen hinreichendes Einkommen, die Bereitschaft zu viel Eigenleistung und die unermüdliche Unterstützung von Herrn Dr. Benno Kubin machten es möglich. Schließlich ließ sich auch die Bauplatzfrage lösen.

Ein Bericht von Frau Anna Leher, geb. 1938 in Pausram, Tschechoslowakei

Nach der Ankunft in Unterjettingen 1946 kamen wir nach Aidlingen in die Turnhalle in der Talstraße. Meine Mutter wollte nach Aidlingen, weil da schon die Eltern waren. Sonst wäre es nach Bayern gegangen. Da kamen die Aidlinger und haben uns ausgesucht. Darunter der Furtmüller. Der fragte: ‚Wie viel seid Ihr?’ Mein Vater: ‚Drei.’ ‚Dann kommt mit mir mit.’ Wir sind in die Furtmühle gezogen, wo am Bach eine kleine Wohnung war (1 Zimmer). Es war kalt, ich habe Mittelohrentzündung bekommen. Dort waren wir eine Weile, etwa ein Jahr, bis wir in der Oberen Straße eine Wohnung bekommen haben bei einer älteren Frau, Marie Gerlach. Als sie starb, sagte mein Vater, er ziehe nicht aus, er kaufe das ‚Häusle’, das früher eine Mosterei war. Da wolle er sterben. Zwar kaufte er das ‚Häusle’, ansonsten kam es anders.

Ich war bei Frank im Haushalt, vorher ein Jahr in der Frauenarbeitschule und Nähschule in Böblingen. Wir bekamen LAG, das hat Dr. Kubin gemacht. 
Die Mutter starb 1969. Zwanzig Jahre später war der Vater, immer noch mit Trauer im Herzen, schließlich bereit, das ‚Häusle’ zu verkaufen und den Erlös mit in den Kauf einer gemeinsamen Wohnung nahe der Kirche zu stecken.

Vater hatte schon nach 8 Tagen ab dem Einzug in die Furtmühle im Steinbruch in Ehningen gearbeitet. Er ging ein Jahr zu Fuß hin. Dann sah er ein beim Vetter ausgestelltes Fahrrad, das kaufte er und fuhr trotz schlechten Gehörs 16 Jahre damit in die Arbeit. Als Mutter krank wurde, hat er aufgehört. Zu mir sagte er: ‚Du bleibst in deinem Geschäft.’ Er hatte Erfrierungen an einem Fuß seit dem Ersten Weltkrieg, dazu kam Zucker, so dass der Fuß in den 70er Jahren abgenommen werden musste. Vater hatte eine Prothese. Er kam damit zurecht und ging oft in den Frankschen Garten, wo er den anderen beim Arbeiten zusehen konnte. Ich bin mit den Eltern Frank gut ausgekommen. Ich habe im ‚Häusle’ geschlafen, habe bei Frank nur gearbeitet. Vater hat anfangs in der Furtmühle auch immer noch geholfen, so klappte es gut, wie auch dann mit den Franks. Wir können nichts Schlechtes sagen. Mutter half damals im Stall. Wir kriegten Mehl und Lebensmittel. 

Schutz durch ein Kruzifix

Der Vater hat bei der Vertreibung verschiedene wertvollere Sachen in einer braun angestrichenen alten Holzkiste mitgenommen. Zu oberst legte er ein altes größeres Kruzifix aus Familienbesitz. Ich habe das als Kind im Einzelnen gar nicht genau mitbekommen, aber mein Vater erzählte, dieses Kreuz sei bei der Vertreibung ihr Schutz gewesen. Bei fast jeder Kontrolle hätten die Tschechen bei Anblick des Kreuzes den Deckel gleich wieder zugemacht und nichts angerührt. Mein Vater sagte dazu, man konnte daraus erkennen, dass es unter den Tschechen auch gläubige Menschen gab und sie oft nur Befehle ausführten.

Mein Vater hat das Kreuz bewahrt und gepflegt. Er hat das Kreuz regelmäßig mit Silberfarbe angestrichen, aber der Christus wurde immer wurmstichiger und musste mit Bindfaden zusammengehalten und am Kreuz festgebunden werden. Als mein Vater das „Häusle“ aufgab, war er unsicher, ob er das Kruzifix nochmals in die neue Wohnung mitnehmen sollte und besprach das mit Pfarrer Boos. Der erlaubte es, das Kreuz zu verbrennen. Das geschah auch. Vorher wurde es vom Pfarrer ausgesegnet.“

Fortsetzung folgt

Siegrid Krülle