Vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges Teil IX

Erschütternd und bewegend – Aidlinger erzählen

Die unglaubliche Geschichte des Herrn Uwe Köhler

Karte Ostpreußen

Karte von Ostpreußen

Noch zu Lebzeiten und auf Anraten meiner inzwischen leider verstorbenen Frau, die aus Breslau stammte, habe ich meine Geschichte aufgeschrieben. Jetzt kann ich auch besser darüber reden.

Familie und Kindheit

Ich bin im Januar 1934 in Greifenberg/Pommern (heute poln. Gryfice) geboren, dem Heimatort meiner Mutter, wo sie zur Entbindung hinfuhr. Greifenberg war eine Provinzstadt. Die Mutter kam aus einem Handwerkergeschäftshaushalt. Mein Vater, geb. 1899, war schon im Ersten Weltkrieg bei der Marine und seit 1931 bei Pillau in Ostpreußen stationiert. In einem kleinen Ort bei Pillau, im Samland nördlich von Königsberg direkt an der Ostsee gelegen, lebte unsere Familie. Ich war das zweite von fünf Kindern, und meine Mutter ging mit mir bald nach meiner Geburt auch wieder nach Hause. Die nächsten Kinder bekam sie per Hausgeburt. In unserem Dorf an der Ostsee habe ich mit meinen Eltern und Geschwistern eine wunderbare Kindheit verbracht. Meine Mutter sagte manchmal: „Du hast erst schwimmen und dann erst laufen gelernt.“

Zur Schulzeit in Greifenberg

Die Eltern wollten den Kindern eine anständige Schulausbildung zukommen lassen. In Pillau gab es jedoch kein Gymnasium, das nächste war in Königsberg. Der ältere Bruder wurde nach Tangermünde/Elbe zu Vaters Schwester gegeben, deren Mann als promovierter Chemiker Direktor einer Zuckerraffinerie war. Für mich hatte die Mutter 1944 ein mitten in Königsberg befindliches Internat im Auge, doch Vater war nicht nur deswegen dagegen, weil sich in Königsberg überall Massen von Menschen, vor allem Flüchtlinge aus dem Osten, drängten. Er hatte eine Landkarte in seinem Arbeitszimmer, auf der er den jeweiligen Frontverlauf und die bereits bombardierten Städte markierte. „Stettin ist schon bombardiert (Anfang August 1944), bald kommen Danzig und Königsberg dran“, sagte er. „Du gehst nach Greifenberg.“ Ab etwa Mitte August 1944 kam ich deshalb nach Greifenberg zum Bruder meiner Mutter, der hier eine Zuckerfabrik besaß, und besuchte hier das Gymnasium. Ich war in Greifenberg, wie fast alle in meinem Alter, beim „Jungvolk“. Unsere Hauptaufgabe nach der Schule bestand darin, die aus dem Osten zuströmenden Flüchtlinge auf die einzelnen Häuser in der Stadt zu verteilen.

Erlebnisse beim Einmarsch der Russen

Greifenberg wurde Anfang März 1945 von den Russen überrollt. Wir machten kurz vor Eintreffen der Russen noch einen Fluchtversuch, der vor Cammin endete. Deutsche Truppen hatten alle Brücken gesprengt, und wir konnten nicht weiter. Russische Tiefflieger schossen in den Flüchtlingsstrom, bestehend aus Pferdefuhrwerken voller Flüchtlinge und Fußvolk. Wir suchten Schutz im Straßengraben. Kurz darauf sah ich die ersten Russen zu Pferde. Der

erste war ein Mongole. Er hatte die Ärmel hochgeschoben: Alles voller Uhren und die Finger voller Ringe.

Jetzt hieß es, alle sollten zurück in ihre Häuser. Wir landeten erschöpft in einem Guthaus voller Flüchtlinge. Jetzt kam die Nachhut der Russen, suchten nach „Deutscher Soldat?“

„Nein.“ Nachdem alle Räume durchsucht und noch verschlossene Türen mit den Stiefeln aufgetreten waren, hieß es: „Uhri! Frau komm mit!“ Auf der Freitreppe vor dem Haus mussten sich alle aufstellen, die Kinder vorn. Wir dachten, jetzt werden alle erschossen. Die Russen vor uns im Halbkreis lachten und knallten herum. Frauen nahmen sie ins Haus, wo schon junge Mädchen waren und schrieen, insbesondere BDM-Mädchen. Die russischen Kampftruppen verhielten sich schlimm, für mich war es, als seien sie keine Menschen.

Dann ging es weiter zurück nach Greifenberg, das von den Russen schon Tage vorher eingenommen worden, aber noch Kampfgebiet war. Eine SS-Truppe hatte sich in der Zuckerfabrik des Onkels verschanzt. Wir konnten nicht ins Haus zurück, da auch hier über die Rega alle Brücken gesprengt waren. Bei einem Freund meines Onkels fanden wir Unterschlupf. Hier erlitt der Onkel beim Eintreffen der Russen einen Nervenzusammenbruch, erstarrte zur Salzsäule und rief in einem fort „Heil Hitler!“ Die Russen haben ihn in einem Keller des Nebenhauses erschossen – einen Tag später die Tante, als sie mit der fünfjährigen Tochter an der Hand auf der Suche nach ihrem Mann war, um ihn irgendwo zu beerdigen. Ich wurde von den Freunden des Onkels, wo wir untergekommen waren, getrennt.

Tod des Vaters und der Mutter 1945

Meine Mutter? In Pillau lag ursprünglich die „Gustloff“ als Marineschulschiff. Die Mutter wollte von Anfang an nicht per Schiff von Pillau aus flüchten. Die „Gustloff“ wurde am 31.01.1945 durch drei Torpedos eines russischen U-Bootes vor Stolpmünde versenkt (ca. 9.000 Tote). Mein Vater veranlasste, dass sie und die drei bei ihr befindlichen kleineren Kinder ausgeflogen wurden. Mit einer ME 110, einem zweisitzigen Jagdflugzeug, ging es nach Heiligenbeil, wo noch ein Brückenkopf gehalten wurde. Danach wurden sie mit einem Transportflugzeug für verwundete Soldaten, einer JU 52, weiterbefördert. Nachdem auch der zweite von drei Motoren ausgefallen war, stürzte das Flugzeug zwischen Kolberg/Pommern und Greifenberg ab. Von den verwundeten Soldaten waren zehn tot. Die Mutter war schwer verletzt, hatte sich Wirbel und Beine gebrochen und kam mit den Kindern nach Kolberg ins Krankenhaus. Mit Hilfe des Roten Kreuzes kam meine Mutter per Schiff nach Kiel und weiter nach Bad Griesbach in Bayern. Sie erfuhr noch im Juni 1945 vom Tod ihres Mannes. Das nahm ihr wohl die letzte Kraft, sie starb bald darauf an ihren Verletzungen, uns Kinder hat sie nicht mehr wiedergesehen.

Die Wege der Geschwister trennen sich

Die drei Kinder kamen bei dem Flugzeugabsturz bis auf Schock und Prellungen mit dem Schrecken davon; die jüngste, 1942 geboren, verlor allerdings für einige Zeit die Sprache. Der Bruder meiner Mutter in Greifenberg, bei dem ich lebte, war von dem Absturz verständigt worden und holte die drei Geschwister zu einer Schwester meiner Mutter, die ebenfalls in Greifenberg lebte. Mit dem letzten Zug gelang ihnen die Flucht vor dem Einmarsch der Russen über Stettin und auf Umwegen nach Tangermünde an der Elbe zu meinem dortigen Onkel, Direktor der Zuckerraffinerie. Auch sie waren gerade im Begriff, sich nach dem Westen abzusetzen. Tangermünde, am linken Elbeufer gelegen, war von den Amerikanern besetzt, auf der anderen Seite der Elbe standen schon die Russen, die Tangermünde

übernehmen sollten. Der in der Villa einquartierte amerikanische Offizier riet zur Flucht in die britische Zone, da sonst mein Onkel von den Russen mit Sicherheit verschleppt würde. Sie setzten sich mit amerikanischer Hilfe nach Ingeleben bei Helmstedt ab. Die jüngsten drei Geschwister blieben bei der Tante, der Schwester meiner Mutter, die später sehr krank wurde. Die drei Geschwister kamen dann in ein Waisenhaus in Tangermünde. Später wurden sie an Pflegefamilien verteilt. Die beiden älteren, Bruder und Schwester, kamen zur einer Pflegefamilie, die aus Berlin ausgebombt war, der Mann war Tiefbauingenieur. Das kleinste kam zu einer Familie bei Stendal. Im Großen und Ganzen ging es ganz gut mit den dreien.

Die älteste Schwester machte eine Ausbildung als Buchhalterin und setzte sich 1950 nach Kaiserswerth zu ledigen Tanten, die Lehrerinnen waren, ab. Ein Jahr war sie auch in England. Heute lebt sie in Düsseldorf. Der Bruder studierte Tiefbau und Wasserwirtschaft, kam dann zur Volksarmee und setzte sich nach der Entlassung 1960 über Berlin in den Westen ab. Heute lebt er in Waiblingen. Die jüngste wurde Krankenschwester und heiratete einen Augenarzt in Schwerin. Zu allen drei Geschwistern habe ich einen guten Kontakt.

Der älteste studierte wie auch ich Maschinenbau, ging dann 1957 zu Bosch nach Leinfelden, 1965 in die USA, machte Karriere bei Black & Decker und war überall unterwegs. Bei einem Trip durch China, kurz vor seinem 60. Geburtstag, holte er sich einen Infekt. Wieder zu Hause, musste er nach einem Zusammenbruch wegen eines Darmdefekts operiert werden und starb tags darauf an einer Lungenembolie, nachdem er auf die Frage, wie es ihm gehe, nur noch unvollständig geantwortet hatte: „Ich glaube, mit geht’s….“

Wir fünf Kinder, zwischen 1932 und 1942 geboren, haben unsre Eltern das letzte Mal im Jahr 1945 gesehen und sind elternlos aufgewachsen. Seitdem haben aber auch wir Kinder unsere Leben getrennt verbracht. Der Krieg hat uns auseinandergeführt und uns die Nestwärme einer gemeinsam erlebten glücklichen Kindheit verwehrt.

Uwe Köhler