Unsere Flucht aus Ostpreußen von Friedrich Gibson

Am 8.5.1945 endete der zweite Weltkrieg. Das ist jetzt 70 Jahre her. In den Monaten davor drang die sowjetische Armee erfolgreich nach Westen vor. Unzählige Deutsche begaben sich aus Angst vor den drohenden Gefahren auf die Flucht, Volksdeutsche aus den Nachbarstaaten Deutschlands wie schließlich auch Deutsche aus dem östlichen Teil Deutschlands selbst, insbesondere aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien. Nach Kriegsende erfolgte dann die Vertreibung weiterer Millionen Menschen.

Frau Gertrud Haug-Gibson aus Aidlingen, damals ein junges Mädchen, erlebte mit ihrer Familie die Flucht aus Falkenort in Nord-Ostpreußen nach Lübeck. Vom 29.11.1944 – 17.4.1945 war die Familie unterwegs. Der Vater Friedrich Gibson hat die ereignisse schriftlich festgehalten und Frau Haug-Gibson hat uns seinen Bericht zur Verfügung gestellt.

Die Fahrt über das Haff

Das Eis war schon ziemlich morsch, als wir dort ankamen. Es war aber noch zur Überfahrt freigegeben. Mit fünfzig Meter Abstand von Wagen zu Wagen fuhren wir rauf. Alleine der Anblick dieser „Eisstraße“ war schon gruselig genug. Morsche Stellen waren mit Brettern ausgeflickt. Ebenso die zahlreichen Löcher der Granateinschläge. An Einbruchsteilen sah man Wagenteile und Pferdeköpfe herausragen. So abschreckend dies auch auf uns alle einwirkte, wir mussten uns daran gewöhnen. Aber das Gefühl: hoffentlich brechen wir nicht ein, blieb. Es kostete Nerven. Wie viele Tausende von Menschen hatten diese Nervenprobe schon vor uns überstanden, und wie viele noch nach uns!

Als wir am anderen Ufer die Nehrung sahen, wurde uns etwas leichter. Doch o Schreck, wir durften nicht an Land! Die Auffahrtstellen waren durch Wehrmacht bzw. durch Gendarmerie abgesperrt. Unsere Fahrt ging weiter auf den Eisstraßen, deren vier sich gebildet hatten. Bei Dunkelheit wurde Halt gemacht und jeder blieb, wo er war, aus Vorsicht. Der Abstand musste eingehalten werden, wegen Einbruchgefahr. Der Wind brauste. Es war kalt. Ganz ohne Schutz auf dem kahlen Eis standen wir da. Wir erwärmten uns durch Hin- und Herlaufen, immer scharf beobachtend, ob sich nicht Wasserstellen unter den Wagen bildeten. In einem solchen Fall ging es dann ein Stück weiter. Es war eine Erlösung, wenn der Tag graute – der aber auch wieder neue Schrecken mit sich brachte.

Russische Panzer fingen an, vom anderen Ufer auf das Eis zu hämmern. Wollten sie uns zur Umkehr zwingen oder hatten sie eine andere Absicht? Uns alle zu zertrümmern, wäre ja einfach gewesen, denn wir fuhren dahin wie die Zielscheiben. An der Stelle, wo das Haff am schmälsten war, versuchte der Feind anscheinend, das Eis mitten durchzuteilen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Jede Menge Geschosse sausten auf das Eis nieder, dazu kamen Bomben und Bordwaffen. Nun mussten wir durch diese Hölle hindurch. Es sei noch gesagt, wer außerhalb dieser „Eisstraßen“ fuhr, musste Gefahr laufen, mit Mann und Maus unterzugehen wegen der vielen Bruchstellen und Löcher. Oder man kam aufs Glatteis, das einem zum Verhängnis wurde. Wir näherten uns dieser Beschussstelle, und im Galopp ging es durch, immer dem zerschossenen Weg und Löchern ausweichend. Wer getroffen wurde, der blieb. Hilfe war nicht möglich in dieser Situation, denn jeder versuchte, sein eigenes Leben zu retten. So hatten wir es beinahe geschafft, als es vor uns zweimal einschlug. Wir bogen zu weit aus, und die Pferde gerieten aufs Glatteis und stürzten.

Da es unaufhörlich einschlug, mussten wir alles stehenlassen und unter den Bäumen der Nehrung Schutz suchen. Von hier aus schien es, als wenn alles unterging. Wo die Wagen zu nahe aufeinander gefahren waren, brach das Eis unter dieser Last. Wo nicht scharf genug auf Löcher aufgepasst wurde, stürzten Pferde zusammen und ertranken, Menschen schrien um Hilfe. Niemand hörte darauf.

Als sich die Lage etwas beruhigt hatte, liefen wir wieder aufs Eis hinaus, um nach unsern Pferden zu sehen. Ein Pferd war tot. Es blutete stark aus den Nüstern. Es hatte sich wahrscheinlich durch das fortwährende Aufschlagen auf das Eis selbst totgeschlagen. Das andere Pferd schien ruhig und unverletzt. Wir schoben Decken und Kleidungsstücke unter die Hufe, auch um die Hufe selbst band ich ein paar Lumpen. Das Pferd kam wieder auf die Beine und weiter ging es. Menschen hatten sich wohl zum größten Teil retten können, denn man sah nur vereinzelt Tote liegen, aber viele Wagen und zerfetzte Pferdeleiber lagen umher oder ragten aus dem Wasser.

Es waren weite Lücken entstanden. Immer wieder versuchte man, ob man nicht doch auf die Nehrung raufkam. An einer Stelle hatten sich mehrere Fahrzeuge angesammelt. Bald merkten wir, dass diese von der Nehrung runterkamen. Warum? Auf unsere Frage: „Wollt ihr euch ins Haff stürzen“, bekamen wir die Antwort: lieber schnell dahin, als langsam und elendiglich umkommen“. Ein Vorwärtskommen dort oben schien unmöglich, weil auf der Nehrung die Wehrmacht ihre Stellung hielt, die ständig unter Beschuss stand.

Wieder mussten wir eine Nacht auf dem Eis kampieren. An Schlaf war kaum zu denken. Und wenn, dann schlief ich im Stehen. Gegen Abend des zweiten Tages verließen wir endlich diese verfluchte Eisstraße. Wir hatten wieder Boden unter den Füßen und dankten Gott, dass er uns heil rübergebracht hatte.

Die Fahrt übers Haff ist für frau Gertrud Haug das schlimmste Erlebnis auf der Flucht gewesen: Die Angst vor dem Dauerbeschuss durch die sowjetischen Jagdflugzeuge, die Angst vor den lebensbedrohlichen Löchern im Eis, eingebrochene Pferde und Fuhrwerke, die teilweise aus dem Wasser und Eis ragten, Menschenköpfe, die auf dem Eis rollten, und Pferdefuhrwerke, die mit kopfloser Besatzung dahinrasten. „Tags saßen wir geduckt und zusammengekauert auf unserem Wagen, nachts schliefen wir auf dem Eis auf einer Lage aus Schilf und Betten. Einmal sauste ein Geschoss unmittelbar an meinem Kopf vorbei und riss in 3 m Entfernung ein Loch ins Eis.“ frau Frau Brigitta Mozer aus Deufringen hat den besonderen Lärm auf dem Haff und gerade das „Sausen“ der Geschosse bis heute im Ohr. Sie war damals 8 Jahre alt und gehört wie Frau Karin Hochbaum aus Aidlingen, damals 6, zu denen, die das Drama der Haffüberquerung als Kinder miterlebten.

Friedrich Gibson, der Vater von Frau Gertrud Haug, schildert den weiteren Weg, der für alle zunächst in südwestlicher Richtung die Frische Nehrung entlang und dann über die Weichsel führte.

Stutthof

Wieder nahm uns der unendliche Wagenstrom auf. Plötzlich stoppte alles. Wir näherten uns einem Auffanglager. Diesem wollte niemand ausweichen, denn hier gab es Essen und einen Platz für eine Nacht zum Schlafen. Große Schiffshallen einer Werft standen dafür zur Verfügung. Auch die Pferde bekamen Futter. Durch eine ziemlich genaue Registrierung war es jedem Durchziehenden möglich, einmal durch dieses Lager zu ziehen. Schier Unmögliches wurde hier überwältigt. Dank an all die Menschen für ihre Aufopferung und für dieses gute Werk. Nach einer gut durchschlafenen Nacht verließen wir Stutthof und näherten uns dem Weichselstrom.

Die Menschenmasse staute sich mehr und mehr. Uns fiel auf, dass auch viel Fußvolk unterwegs war. Wenn diese Menschen einen Platz erwischten, wo sie schlafen konnten, gaben sie ihn nicht wieder frei. Sie wussten wirklich nicht, woher und wohin. Alle, die nicht so die Ruhe weg hatten, konnten sich eventuell von Danzig-Gotenhafen aus verschiffen lassen, besonders Mütter mit Kindern. Dort, wo wir herkamen, hatte man diese Menschen schon vorher mit der Eisenbahn weggeschafft. Hier hatte man sie wohl vergessen.

Die Weichselübersetzung

Es ging der Weichsel und den Fähren zu. Schon einige Kilometer vorher stockte der Wagenzug. Bald hatte die Kunde vom Übersetzen auch uns erreicht. Ich ging mit einigen Leidensgenossen zum Strom, um diesem Schauspiel zuzusehen und sich zu informieren und orientieren. Drei Riesendampfer bewältigten die Transporte Tag und Nacht. Jedem Dampfer wurde ein Strom von Wagen und Menschen zugewiesen, und das Schiff verschlang diese Menge vor unseren Augen schnell. Mit dieser Last wälzten sich die Riesendampfer durch die Strömung und kamen, weit abgetrieben, an der gegenüberliegenden Landestelle an. Auf diese Weise kamen auch wir glücklich auf die andere Seite. Nun zogen wir weiter, die Danziger Bucht entlang. Wir hatten dann noch eine Übersetzung vor uns. Auch diese haben wir, wenn auch langsam, gut überstanden.

Danzig und der Volkssturm

Jetzt ging es in Richtung Danzig. Es schien, als ob alles über Danzig gelenkt wurde. Von allen Seiten wälzten sich unübersehbare Trecks in diese Stadt. Durch umherwanderndes Fußvolk bekamen wir Kunde: „Ihr Männer werdet alle gemustert. Wer nicht Krüppel ist und zu alt, muss sich auf der Stelle fertigmachen zum Volkssturm“. Immer weiter ging diese Parole durch die Wagentrecks. So mancher brave Volkssturmmann, der bis hierher die Seinen gebracht hatte in dem Glauben, ohne ihn wären sie nicht so weit gekommen, der machte sich jetzt im Stillen auf und davon. Er wollte Danzig zu Fuß umgehen und später wieder mit den Seinen zusammentreffen. Ob es ihnen gelungen ist, und wie weit diese Männer gekommen sind, davon weiß keiner etwas zu berichten.

Ich schmierte noch einmal den Wagen ab. Dann gab ich den Meinigen „Unterricht“ im Futterbesorgen und Füttern. Im Fahren waren sie kundig. Ich war so auf meine „Beförderung“ gefasst. Es kamen Einzelposten in Sicht, bis sich diese zu einer Postenkette zusammenschlossen. Jeder Wagen wurde überprüft. So mancher Wagenführer musste die Leine abgeben. Ein Ersatz war schnell zur Stelle, an Kutschern mangelte es nicht. Es gab genug ältere Menschen, Frauen und auch junge Burschen. Unser Wagen näherte sich dem Posten. „Wer gehört alles zu diesem Wagen?“ Ich zeigte auf meine Frau und Tochter. „Weiter fahren, weiter …“, hörte ich die Stimme sagen. War es möglich, dass man mich nicht nahm? Doch dann sagte meine Frau zu mir: „Du siehst schon lange wie ein Siebzigjähriger aus, ich wollte es dir nur nicht sagen“. Fürwahr, man hatte mich für älter gehalten. Der zerzauste Bart, die durchwachten Nächte, all die Strapazen hatten Spuren hinterlassen. Dabei war ich 58 Jahre, Volkssturm 1.

Weiter ging es durch Gotenhafen bis Kielau. Hier wurde uns Halt geboten. In einer neuen vierstöckigen Schule bekamen wir Quartier. Jeden Morgen konnten wir uns Verpflegung abholen: Brot, Margarine und Käse; Kinder bekamen auch Marmelade. Wer sich zu Fahrdiensten bereit erklärte, bekam Unterschlupf und Futter für die Pferde. Wir gaben die Hoffnung nicht auf, dass doch noch eine Wende eintreten könnte und der Feind sich zurückzog. Aber auch hier zeigten sich dann immer mehr russische Flugzeuge, der Beschuss nahm zu. Den Fahrdienst konnten wir nicht mehr aufrechterhalten. Die Verluste an Pferden waren zu hoch. Die Stallungen fingen an zu brennen, weil der Russe hier Wehrmacht vermutete. Diese hatte sich aber in den Abhängen der Berge in Stollen verschanzt. Ein Massensterben der treuen Tiere setzte ein, weil auch kaum noch Futter vorhanden war.

Plötzlich kam die Parole, dass alle Zivilpersonen bis Mitternacht aus Kielau draußen sein müssen. Inzwischen hatte ich wieder ein zweites Pferd, und wir fuhren in Richtung Gotenhafen. Vielleicht würde man dort noch ein Schiff erwischen? Unterwegs gerieten wir in den Beschuss durch eine Stalinorgel. In einem Luftschutzkeller suchten wir Deckung. Aber die Pferde vor den Wagen ? (Wir waren mit noch zwei Familien unterwegs.) Soldaten kamen rußgeschwärzt aus Richtung Gotenhafen und riefen uns zu: „Dort brennt das ganze Hafenbecken, da könnt ihr nicht hin“. Es ging also zurück in die Richtung, woher wir gekommen waren. Doch auch hier war an ein Bleiben nicht zu denken. Alles stand in hellen Flammen. Auf irgendeiner Straße fuhren wir weiter ins Ungewisse, dem großen Wasser, der Ostsee zu. Wir kamen in einen Ort, der Krefsfelde hieß. Ein netter Feldwebel nahm sich unser an. „Die Mutter kocht mir das Essen, die Tochter stopft mir die Socken, der Vater betreut meine Pferde.“ Er versuchte uns aufzuheitern. Wir aber konnten gar nicht mehr lachen. Uns stand die Angst ins Gesicht geschrieben.

Auf einem Bauernhof, wo auch der Feldwebel mit seiner Einheit untergebracht war, konnten wir die Pferde unterstellen, auch gab es Futter dort. Wir selbst mussten mit einer kleinen Milchkammer vorlieb nehmen, denn die Bäuerin war nicht sehr freundlich.

Hexengrund

Inzwischen waren vierzehn Tage vergangen. Auch hier war es alles andere als ruhig. Die HKL (Hauptkampflinie) rückte immer näher. Durch ein Fernglas konnte man von hier aus die Front beobachten. Im drei Kilometer entfernten Wald standen die russischen Panzer. Meine Frau resignierte und wollte hier alles Weitere abwarten. Ich aber suchte nach einem Ausweg. Da rieten die Soldaten mir, wir sollten versuchen, den Hafen von Hexengrund zu erreichen. Es war der einzige Punkt in diesem Kessel, der noch offen war. Wieder standen wir vor einer schweren Entscheidung: Entweder alles stehen lassen, auch die Pferde und vielleicht unser Leben retten, oder aber hier ganz sicher den Tod finden. Wir entschieden uns für das erstere.

Über die Ostsee

Nun sollten wir Weiteres abwarten. Ein Schiff würde uns hier aufsammeln und wegbringen, sagte man uns. Die Stadt Hela war fast zerstört, und man fand wenig Schutz gegen Bomben und Fliegerbeschuss. In Bunkern und stehen gebliebenen Häusern hatte sich das Militär verschanzt. Wir bekamen einen jungen Burschen zugeteilt, der sich rührend um uns kümmerte. Er brachte uns auch warmes Essen aus der Feldküche. Viele Flüchtlinge waren nicht mehr auf Hela.

Nach fünf Tagen zeigte sich ein Schiff am Horizont. Es kam näher, aber wir sahen keine hohen Aufbauten. Es entpuppte sich als ein Kriegsschiff. Sollten wir hier rauf – auf den „grimmigen Wolf“? Es musste alles sehr schnell gehen, und schon sauste der Jäger mit uns ab. Was es hieß, auf einem Kriegsschiff zu fahren, war uns allen bewusst. Von den russischen Torpedos hatten wir schon viel gehört.

Bei strahlendem Sonnenschein überquerten wir die Ostsee. Es hieß, wir kommen nach Dänemark. Unser Jäger flitzte hin und her, und wir merkten, dass er plötzlich beidrehte. Er überschlug sich fast in der Kurve. Auf unser Fragen und Schätzen hat man uns nicht verraten, welcher Gattung das Schiff angehört. Sicher wollte man uns nicht unnötig beunruhigen. Die Besatzung passte wunderbar dazu. Alles gut geschulte junge Menschen – die aber auch ein Herz für uns Flüchtlinge hatten. Wortlos überließen sie uns ihre Kojen und Schlafnetze und legten sich selber – nach der Wachablösung – in Gängen und Winkeln hin zum Schlafen. Mit dieser Besatzung wären wir alle ganz mutig, wenn es hätte sein müssen – in den Grund gefahren.

Aber wir hatten Glück. Weder in Torpedo noch ein Flugzeug hat uns ausfindig gemacht. Nun erfuhren wir auch, dass Dänemark keine Flüchtlinge mehr aufnimmt. Bei einem herrlichen Sonnenuntergang fuhren wir im Hafen von Swinemünde ein. Hier waren wir fürs erste dem Kanonendonner entronnen. Hier nahm uns ein ehemaliger Luxusdampfer mit dem Namen „Berlin“ auf. Es ging über das Stettiner Haff bis nach Usedom und weiter nach Anklam in Pommern. Fort wurden wir auf einen Flussdampfer umgeladen. Nun ging es die Peene entlang bis Demmin. Aber hier wusste man auch nicht recht, wohin mit uns. Tagelang saßen wir fest. Dann – endlich – fuhr ein Güterzug vor und brachte einen großen Teil der Menschen weg. Wir kamen noch nicht mit. Bis dann abermals ein Zug vorgefahren kam. Dieser brachte uns dann durch Mecklenburg bis nach Lübeck.

Ein Kriegsschiff brachte die Familie Gibson und restliche andere Flüchtlinge in letzter Minute unversehrt von der Halbinsel Hela aus nach Swinemünde. Von dort wurden sie schließlich per Dampfer nach Demmin in Mecklenburg/Vorpommern und weiter per Güterzug nach Lübeck transportiert. Das glückliche Ende fasst Friedrich Gibson in folgende Worte:

Neue Heimat

In Lübeck wurden wir aufgestellt. Zuerst ging es zur Entlausung. Später kamen wir nach Stockelsdorf, einen Ort vor den Toren Lübecks. Hier kamen wir in ein Massenquartier. Es war eine Schule. Wie die Ölsardinen lagen wir im Stroh nebeneinander. Und hier erlebten wir auch das Ende des Krieges. Als die englischen Streitkräfte einmarschierten, atmeten wir auf! Waren wir doch dem Russen entgangen! Endlich schwiegen diese Mordwaffen, und die Todesangst ward von uns genommen. Es war ein wunderbares, erleichterndes Gefühl!

Mit Schaudern denken wir zurück an diese Flucht und an die Hungerjahre danach (1946/47). Aber liebe Menschen sorgten auch hier für uns, und wir konnten unsere tägliche Wassersuppe etwas aufbessern. Gerne wären wir jetzt wieder zurück in unsere Heimat gegangen, man hoffte immer darauf! Aber mit der Zeit schwand die Hoffnung mehr und mehr. Wir mussten uns damit abfinden, in der Fremde Fuß zu fassen. Den jüngeren unter uns mag es besser gelungen sein. Einen alten Baum kann man nicht mehr verpflanzen. Wie gerne würden wir in der geliebten Heimaterde ruhen, wenn unsere Zeit gekommen ist. Aber es ist uns nicht vergönnt.

Jedoch mit tiefem Dank im Herzen an den Höchsten, der uns beschützt hat und bis hierher hat kommen lassen, gewöhnen wir uns an alles, wenn auch schwer. So fanden wir – ein jeder von uns woanders- eine neue Heimat hier im Westen. Aber unsere Heimat Ostpreußen blieb weiter in unserem Herzen, und nie werden wir sie vergessen.

Friedrich Gibson, im Januar 1949 in Stockelsdorf bei Lübeck.
Früher Falkenort bei Breitenstein, Krs. Tilsit-Ragnit. Verstorben 1963.

Schlussbemerkung

Ostpreußische Spuren in Aidlingen

Wer die die Strapazen der Flucht oder später der Vertreibung aus Ostpreußen überlebt hatte, fand meist eine neue Heimat im Norden Deutschlands. Nur ein kleinerer Teil kam, meist nachträglich, nach Süddeutschland. Von denen, die sich in Aidlingen bzw. Dachtel und Deufringen niederließen, sind die älteren bereits verstorben und ruhen auf unseren Friedhöfen; die noch leben, waren damals durchweg Kinder. Die damaligen Erlebnisse haben sie alle geprägt.

Frau Waltraut Mohr, geb. Reimer, aus Deufringen, damals 15, stammt aus Starkenberg in der Nähe von Königsberg, die Mutter schaffte es, mit dem Pferdefuhrwerk über das Haff bis nach Gotenhafen (Gdingen) zu kommen. Im dortigen Gedränge verloren sich jedoch Mutter und Tochter aus den Augen; die Tochter wurde verwundet mit der Cap Arcona nach Dänemark verbracht, glücklicherweise aber von der Mutter, die ein Begleitboot mitgenommen hatte, wieder gefunden. Sie gehörten zu den letzten sich noch in Dänemark aufhaltenden Flüchtlingen und wurden in Deutschland direkt der französischen Besatzungszone zugewiesen. Sie kamen auf diese Weise nach Dachtel bzw. dann Deufringen. Die Eltern von Frau Karin Hochbaum, Josef und Maria Schwarz, die aus Tilsit stammten, schafften es nach der Haffüberquerung, sich mit ihrem Planwagen und 10 Mann Besatzung auf dem Landweg bis zu ihrem Fluchtziel in der Oberpfalz durchzuschlagen. Dagegen wurde die Familie von Frau Brigitta Mozer, die aus der Gegend von Heiligenbeil stammt, in Pommern von den Russen eingeholt. Bis dahin hatte der treue Gehilfe „Josef“ das Fuhrwerk begleitet und der Mutter, Frau Toni Oltersdorf, zur Seite gestanden. Bis zum Haff hatten sie auf einer Heerstraße mitfahren können. Am Wagen hing eine Milchkanne, die immer wieder aufgefüllt werden musste; das jüngste der vier Kinder war vier Monate alt. Der siebenjährige Bruder hatte sich beim Marsch über das Eis etwas entfernt und brach ein, wurde aber gerettet. Ein großes Problem war, dass eine der beiden mitgenommenen Großmütter sehr krank wurde, in Danzig aber kein Platz auf einem Schiff aufzutreiben war. Glücklicherweise traf die Familie nach zweijährigem Aufenthalt im Kreis Schlawe/Pommern wieder mit dem Vater, der an der Westfront gewesen war, zusammen. Eine unglaubliche Geschichte hat in den gleichen zwei Jahren Herr Uwe Köhler (Deufringen) erlebt, damals 11 Jahre alt, dessen Familie in Pillau im Samland zu Hause war, der aber in Greifenberg/Pommern, dem Heimatsort der Mutter, das Gymnasium besuchen sollte und dort bei Verwandten untergebracht war. Aus dem Kreis Königsberg stammten schließlich auch Frau Charlotte Knötig und ihre Tochter Frau Schestag (Aidlingen).

Abschließende Anmerkung zum Fluchtgeschehen
Trotz denkbar schlechtesten Bedingungen – der verzögerten Evakuierung, der Einbeziehung in Kampfhandlungen, der Abschnürung des Landwegs, der dramatischen Situation auf dem Haff, der Eiseskälte – gelang einem großen Teil der ostpreußischen Bevölkerung auch noch ab Januar 1945 die Flucht auf dem Land- oder Seeweg. Die Marine hat sich bei der Evakuierung auf dem Seeweg von Pillau oder der Danziger Bucht aus größte Verdienste erworben. Die Soldaten taten alles, um möglichst viele Flüchtlinge zu retten. Schon 1944 hatte es Seerettungsaktionen für die Deutschen aus dem Baltikum gegeben. Die Evakuierung großen Stils wurde am 21. Januar 1945 durch Großadmiral „Karl Dönitz“ eingeleitet; die Maßnahme bekam später den „Namen Unternehmen Hannibal“. Im Wesentlichen wurden alle verfügbaren Schiffe zur Rettung von Flüchtlingen in der Ostsee zusammengezogen.

Trotzdem forderte die Flucht unter Kriegsbedingungen und größtenteils im Winter sehr viele Tote. Es wird geschätzt, dass von den bei Kriegsende ca. 2,4 Millionen Bewohnern Ostpreußens ca. 300 000 auf der Flucht ums Leben kamen. Tausende ertranken allein auf dem Haff oder wurden dort erschossen. Unter den Menschen, die bei den Versenkungen der „Wilhelm Gustloff (Schiff)“ im Frühjahr 1945 starben, befanden sich ebenfalls viele Flüchtlinge aus Ostpreußen, etwa 9 000 allein bei der Versenkung der Gustloff am 30. 1. 1945 und über 10 000 bei der Versenkung der beiden anderen Schiffe.

 

Von Siegrid Krülle