Schulferien und Urlaubszeit – alte Heimat – neue Heimat

Alte Heimat – neue Heimat:

Zwischen Hoher Tatra und den Hecken auf dem Venusberg

Welche Erinnerungen brachten diejenigen mit, die sich ab 1945/46 nach Flucht und Vertreibung in unseren Ortschaften niederließen? Die meisten stammten aus ländlichen Regionen im damaligen Osten Deutschlands oder den Staaten Osteuropas. Sie erzählen aus ihrer alten Heimat Ähnliches wie unsere Alteingesessenen von den hiesigen Gepflogenheiten. Die Bauern steckten hier wie dort in der Arbeit, waren verantwortlich für Vieh und Felder, sie hatten und gönnten sich kaum freie Zeit, und die Kinder wurden in den Schulferien in die Arbeit mit einbezogen, soweit das ihre Kräfte zuließen.

Frau Helene Walentin ist urwüchsige 93 Jahre alt, 1922 geboren und 1944 mit ihrem ersten Kind aus ihrer alten Heimat in Bauschendorf in der Zips geflüchtet. Die Zips gehörte zur Zeit der Besiedelung mit Deutschen im 13. Jahrhundert zum Königreich Ungarn, heute gehört sie zur Slowakei. Die Siedler haben das Gebiet durch ihre Tüchtigkeit zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte gebracht. Ihre Nachfahren sind in Aidlingen stark vertreten. Frau Walentin erzählt:

Wir hatten einen großen Hof in einem alten Kastell, der einmal einem Baron gehört und den mein Großvater gekauft hatte. Wir zählten zu den reichen Bauern. Unser Hof war 50 Hektar groß, wir hatten zwei Pferdegespanne, zwei Knechte, eine Magd und ein Arbeiterehepaar. Die Eltern waren selbst fleißige Leute. Mein Vater vertrat die Devise: Die Knechte ackern nicht richtig, wenn der Bauer nicht dabei ist.

Wir Kinder, meine Schwestern und ich, hatten es schön. Wir freuten uns auf die Ferien und spielten gern in unserem Garten, mit dem Ball oder unseren Puppen. Im eiskalten ‚Hegwasser’, unserem Bach, haben wir gebadet, oft haben wir uns erkältet. In der Erntezeit mussten wir auch als Schulkinder schon mithelfen. Wir mussten nicht früh aufstehen, für den Stall waren die Knechte und die Magd da. Wir mussten aber z. B. aus dem Brunnen, den wir in unserem Hof hatten, Wasser schöpfen, für das Schweinefutter in Töpfen Kartoffeln herrichten, bei der Heu- und Getreideernte Häufen zusammenrechen und bündeln und auch beim Kartoffelklauben helfen. Da war meist die Großmutter dabei, mit ihr haben wir bei der Arbeit gesungen, wir kannten viele Volkslieder. Einmal hatten wir einen schlesischen Ferienjungen bei uns. Wenn ich an die früheren Schulferien denke, fällt mir vor allem unser besonderes Fest zum Schuljahrsende ein. Es war ein Fest der Schuljugend und hieß Majales, das war eine ungarische Bezeichnung. Im Dorf gab es einen großen neuen Saal, dort wurde gegessen und getrunken, getanzt und Theater gespielt. Einmal spielte ich dabei eine Waldfee.

Die Vergnügen auch der Erwachsenen beschränkten sich normalerweise auf das Dorf. Meine Eltern fuhren einen Tag im Jahr mit uns Kindern und weiteren Verwandten nach Bad Rauschenbach, das war in der Nähe und hatte eine Schwefelquelle. Ich fand, es hat dort sehr gestunken. Es war Brauch, die Verwandten in der Umgebung zu besuchen. Unsere Kutsche sollte aber ansonsten nicht für größere Vergnügungsfahrten oder Ausflüge verwendet werden – schon um die Pferde zu schonen. Wären nicht die Schulausflüge gewesen, wäre ich z. B. nie in die Hohe Tatra gekommen, das Bergmassiv, das wir ja von unserem Hof aus vor Augen hatten.“

                                                                 *****

Frau Gertrud Haug-Gibson hat ihre Kinder- und Schulzeit in Falkenort, einem kleinen Dorf im nördlichen Ostpreußen, erlebt, das von den Russen nach dem Krieg dem Boden gleich gemacht wurde. Sie kam durch ihre Heirat mit Otto Haug nach Aidlingen.

Meine Eltern hatten eine kleinere Landwirtschaft. Die großen Ferien habe ich nicht herbeigesehnt. Ich brauchte sie nicht. Denn ich bin sehr gern in die Schule gegangen. Der Vater stellte es uns beiden Töchtern frei, ob wir bei der Bauernarbeit mithelfen wollten oder nicht. Wir konnten, aber mussten nicht. Wir Mädchen sollten uns aber nicht in die Felder oder Wälder der Umgebung oder Orte in der weiteren Nachbarschaft begeben. Schon in den 30er Jahren befürchtete der Vater, es könnten Partisanen in den Wäldern sein, denn wir waren im Grenzgebiet zu dem damals sowjetischen Litauen. Wir waren daher auf die Spielkameraden aus dem Dorf angewiesen. Das waren meist dieselben Kinder, mit denen wir in unsere einklassige Schule gingen, jedenfalls die Mädchen davon. Wir spielten mit Kreiseln und Murmeln, wir spielten Verstecken und mit Vorliebe alle Varianten des ‚Wandballs’. Für regnerisches Wetter hatten wir Würfelspiele. Seit Kriegsbeginn gab’s den Aufruf zum Kräutersammeln. Das habe ich jeden Sommer mit großer Begeisterung gemacht. Die Kräuter wuchsen ja überall, auch an den Straßenrändern. Und man konnte sich damit ein paar Pfennige verdienen. Sonntags besuchte unsere Mutter regelmäßig mit uns Kindern ihre Angehörigen in einem Nachbarort, und in den Weihnachtsferien waren wir manchmal bei Verwandten in der Stadt, in Insterburg.“

                                                              *****

Die Kinder der 1945/46 zugezogenen Vertriebenen, gleich ob sie noch vor Kriegsende in der alten Heimat oder danach als Aidlinger geboren wurden, mussten auf ein Leben mit dem väterlichen oder großväterlichen Hof verzichten. Sie wurden geprägt einerseits von den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über den Verlust der Heimat, andererseits von deren Einsatz, sich wieder eine neue Existenz zu schaffen. Sparsamkeit war oberstes Gebot im Alltagsleben. Die Ferien- und Urlaubsprogramme blieben bescheiden.

Hans-Günther Schmidt berichtet: „Ich bin 1951 in Aidlingen geboren. Meine Familie stammt aus Batschka-Palanka an der Donau, das seit 1918 zu Jugoslawien, vorher zu Österreich-Ungarn gehörte. Sie ist von dort nach dem Krieg vertrieben worden. Mein Vater kam aus russischer Kriegsgefangenschaft nachträglich nach Aidlingen. Die Eltern haben schon 1953 auf dem Sonnenberg gebaut (landwirtschaftliche Nebenerwerbssiedlung) und leben nicht mehr. Wir sind zwei Brüder und haben beide unsere Häuser auf dem elterlichen Grundstück. Ich kam 1958 in die Schule. Ich habe nicht gemerkt, dass die Klassenkameraden einen Unterschied zwischen Kindern aus einheimischen und aus Flüchtlingsfamilien gemacht hätten. Ein Lehrer hat sich allerdings einmal beleidigend gegenüber uns katholischen Kindern geäußert. Bis in die 70er Jahre war bei uns von Urlaub nicht die Rede. Der Vater arbeitete beim Daimler, die Mutter war Schneiderin, alle, auch die bei uns lebenden Großeltern, waren mit Haus, Garten und den Tieren beschäftigt, die wir anfangs noch hatten.

Was wir beiden Brüder in der Ferienzeit so alles getrieben haben? In den Pfingstferien waren wir immer auf einem Zeltlager in Gechingen, das hat mir sehr viel Spaß gemacht. In den Sommerferien haben wir uns immer zusammen mit den Freunden in den Hecken Richtung Venusberg getroffen und Lager gebaut. Dort haben wir alles Mögliche gemacht, z. B. uns Geschichten erzählt und Comics angeschaut. Die waren damals sehr in Mode gekommen. Wir haben die Lumpen, die bei der Arbeit meiner Mutter abfielen, gesammelt und bekamen dafür ein paar Pfennige. Dafür konnten wir uns ab und zu ein Comic-Heft kaufen. Auf diese Weise bin ich auch zu meiner ersten Zigarette gekommen. Da war ich elf. Nicht weit weg, dort, wo Aid und Würm zusammenfließen, beim Wasserhaus, konnten wir zum Baden gehen. Dort habe ich schwimmen gelernt. Es war nicht gefährlich, einige wirklich tiefe Stellen gab es in der Würm erst ein ganzes Stück weiter flussabwärts. Wir sind auf den Wiesen gelegen, haben Comics angeschaut und es uns auch sonst gut gehen lassen.“

                                                                  *****

Unter den zusammengewürfelten Bewohnern unserer Orte nach dem Krieg waren auch einige, vertrieben oder nicht, die ihre Schul- und Jugendzeit nicht auf dem Dorf, sondern als Städter erlebt hatten. Vielleicht hätte der eine oder andere von einem Urlaub in der „Sommerfrische“ erzählen können. Denn die Sommerfrische war bis Mitte des 20. Jahrhunderts beliebt. Aufgekommen war sie, seit ab etwa 1850 unsere Lande durch den Eisenbahnbau mehr und mehr erschlossen wurden. Den Städtern wurde es dadurch ermöglicht, mit der Familie in angenehmer ländlicher Umgebung in einer Privatunterkunft, einem Gasthof oder schließlich auch einem Hotel Erholung zu suchen. Die klassische Sommerfrische war jedoch von Anfang an einer eher begüterten Schicht vorbehalten.

Frau Lotte Wochele, Jg. 1934, kam vor über 50 Jahren durch Heirat nach Aidlingen. Sie hat ihre Kindheit in Nagold verlebt – man könnte sie ein gemäßigtes Stadtkind nennen. „Welche Erinnerung haben Sie an Ihre Schulferien?“ „Wunderschön war es“, kommt es da ganz spontan. „Der Vater war in einem Büro tätig, wir hatten also nichts mit Landwirtschaft zu tun und wohnten obendrein direkt gegenüber dem Nagolder Freibad. Nebenan war der Schlossberg, wo wir ebenfalls viel unterwegs waren. Mit sechzehn war ich mit meinen Eltern das erste Mal in Urlaub. Das war etwas Besonderes. Ein Familienurlaub kam nicht in Betracht, denn wir waren sechs Kinder, die einen waren noch zu klein oder die anderen schon zu groß für eine solche Aktion und sparen mussten wir außerdem.“

Das bestätigt: Auch für eine in der Stadt lebende Familie wuchsen um die Mitte des letzten Jahrhunderts die Ferien- und Urlaubsträume normalerweise nicht in den Himmel. Den Massentourismus von heute gibt es erst seit dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts.

 

Siegrid Krülle