Ein Zipser Urgestein – Helene Walentin wird 95 – Teil 2

Meine Familie zwischen Bauschendorf/Zips und Aidlingen

Die Flucht aus Bauschendorf und das Schicksal der Rückkehrer und Verbliebenen

Mit dem Ausgang des Krieges änderte sich auch für die Deutschen in der Slowakei alles. Wir hatten Glück. Ende Oktober 1944 (31.10.1944) sind wir wegen der herannahenden russischen Front und befürchteter Überfälle durch sowjetfreundliche slowakische Partisanen geflüchtet. Die Schulkinder waren schon im September evakuiert worden. Jetzt waren die Mütter mit Kleinkindern und die Alten dran.

Die Lage war immer bedrohlicher geworden. Es fuhren Treckwagen durchs Dorf, und wir dachten, es seien Deutsche auf dem Rückzug aus Rußland, aber es waren Partisanen auf dem Weg ins Hauerland in der mittleren Slowakei. Im Hauerland war ein Partisanenaufstand, und dort ging man mit den Deutschen besonders schlimm um. In verschiedenen Ortschaften wurden alle Männer zwischen 16 und 80 erschossen. Der auch hier bekannte zwischenzeitlich verstorbene Pfarrer Pöss war unter den Opfern, konnte sich aber unbemerkt aus einem Leichenberg befreien und davonlaufen. (S. dazu: Leidensweg der Karpatendeutschen 1944-1946, Eine Dokumentation, 1983)

Unsere Fluchtroute führte über Zakopane, Krakau, Breslau und Chemnitz in das sudeten-deutsche Karlsbad. Bis Zakopane, der Grenzstation nach Polen, hat uns mein Mann im Lastwagen gebracht. Dort haben wir übernachtet. Er fuhr dann zurück. Wir Frauen, die Kinder und Alten, so ich mit dem kleinen Helmut und der Großmutter, sind mit den erlaubten 70 kg Gepäck im Zug weitergefahren. Schwester Jolanthe mit ihren zwei kleinen Kindern war auch dabei. Unterwegs in Polen wurden wir bombardiert, es war kritisch.

In unserem Zielort bei Karlsbad sind wir zunächst geblieben. Wir haben dort bei einem Wagner eine schöne Wohnung bekommen, es waren nette Leute. Es war gebirgig und ähnlich wie zu Hause. Mein Kind habe ich 15 Monate gestillt, so war es gut versorgt. Der Ort bei Karlsbad war unser Treffpunkt. Meine Mutter Anna Kobialka war am 14.12.1944 mit einem Transport nach Reichenberg evakuiert worden und traf von dort in Karlsbad ein. Mein Mann, mein Vater und mein Schwager sind am 21.1.1945 mit einem Treck in großer Kälte und unter Bombenhagel geflüchtet und dann in Karlsbad ebenfalls zu uns gestoßen.

Mein Glück war es, dass ich nach Kriegsende nicht wie die anderen nach Hause zurückgekehrt bin. Dadurch konnte ich alles retten, was ich an Gepäck mitgenommen und was mir mein Vater nach der Flucht noch in Kisten nachgeschickt hatte. Ich wundere mich noch heute, dass trotz des Krieges alles angekommen ist. Ich hatte ja eine große Aussteuer, das kam alles in die Kisten. Sogar das Bett und die Matratzen sind angekommen. Mein Mann blieb bei mir und dem Kind. Er hatte im Radio gehört, dass alles deutsche Vermögen beschlagnahmt worden war, und sah in der Heimat keine Zukunft mehr.

Wie viele der Geflüchteten und Evakuierten aus unserer Gegend sind jedoch meine Eltern nach Kriegsende wieder in die Heimat zurückgekehrt. Mein Schwager überredete sie und versicherte meinem Vater, der ja zu Hause Bürgermeister war, es würde ihnen nichts passieren. Mein Schwager musste zurückkehren. Er hatte die Aufforderung erhalten, die „Riemen“ zurückzubringen, die er auf die Flucht mitgenommen hatte, die aber für den Betrieb seiner inzwischen beschlagnahmten Mühle und Sägemühle in Bauschendorf erforderlich waren.

Die meisten der Rückkehrer wurden wie die Daheimgebliebenen behandelt und in Lager verbracht, wo es ihnen sehr schlecht ging, und dann 1946/47 enteignet und vertrieben. Mit Hilfe des benachbarten Juden Tannlich konnte mein Vater auf einem Gut arbeiten und dadurch der Einweisung in ein Lager entgehen. Viele unserer Leute landeten nach der Vertreibung in Mecklenburg in der sowjetischen Besatzungszone, so auch meine Eltern. Meine Mutter war krank und starb bald, obwohl sie noch so jung war, 48, es gab kaum medizinische Hilfe. Mein Vater kam durch Zuzug zu uns.

Der Bruder meines Mannes ist in Krakau vermisst. Ich habe noch Briefe von ihm, auch andere, z. B. von meiner 1949 verstorbenen Großmutter, geschrieben in „Korinth“, und meiner kranken Mutter aus der Nachkriegszeit, das sind Heiligtümer für mich.

Von Bayern nach Aidlingen

Von Karlsbad aus mussten wir dann am 16.5.1946 in die amerikanische Besatzungszone, genauer nach Au-Hallertau in Bayern. Dort wohnten wir bis 31.10.1957. Wir waren sehr primitiv untergebracht und sind 1957 umgezogen, als wir bei einem Treffen in Augsburg von den in Aidlingen zu vergebenden Bauplätzen hörten. Hier gab es Arbeit. Und hier haben wir unser Haus gebaut, in dem wir anfangs alle wohnten, außer meinem Mann, mir und den beiden Söhnen auch meine Schwiegereltern und der Vater. Es war ein typisches Flüchtlingshaus, alle unterstützten einander. Mein Vater arbeitete wie die meisten bei Daimler. Mein Mann zog es aus gesundheitlichen Gründen vor, als Raupenführer auf dem Bau zu arbeiten; ideal war das für seine Beine aber auch nicht. Der Schwiegervater bekam eine VdK-Unterstützung, weil ihm im Ersten Weltkrieg Zehen abgefroren waren.

Der Zuzug einer ganzen Reihe Verwandter und Bekannter aus der alten Heimat hat uns das Eingewöhnen in Aidlingen zusätzlich erleichtert. Ich bin froh, dass es in den fünfziger Jahren nicht zu der schon vorbereiteten Auswanderung nach Amerika gekommen ist. Aidlingen ist mir zur zweiten Heimat geworden.

 

Unser Heimatdorf

Das Dorf und seine Umgebung

Bauschendorf (slowakisch Busovce) ist ein nahezu rein deutsches Bauerndorf gewesen, wir waren deutsch-evangelisch. Bauschendorf hatte vor der Vertreibung über 400 Einwohner (Anm: Zuletzt 338 Deutsche, 134 Slowaken, 19 Juden). Wir hatten immer die Hohe Tatra vor Augen. Die lag nordwestlich von Bauschendorf. Die Stadt Käsmark war etwa 10 km entfernt, Topportz war ganz nah, etwa 5 km entfernt. Bauschendorf und Käsmark lagen an der alten „Kaiserstraße“, die durch die Dörfer entlang des Flusses Popper führte. Topportz lag etwas abseits, auch Maltern. Eine ganze Reihe Topportzer sind nach dem Krieg nach Aidlingen gekommen, jedoch keine weiteren Bauschendorfer.

Bauschendorf ist wie andere Zipser Orte meines Wissens um 1300 gegründet worden. Das Gebiet gehörte früher zum ungarischen Königreich. Das Ungarische spielte bis in die jüngere Zeit hinein immer noch eine gewisse Rolle, mein Vater konnte ungarisch. Woher die ersten Siedler kamen, weiß ich nicht genau. Schlesier waren dabei. (Anm.: Die Zipser, auch Zipser Sachsen genannt, stammten wohl vor allem aus Flandern und dem Rheinland und brachten die Dialekte dieser Region mit. Die Bezeichnung Sachsen war ein in der ungarischen Kanzleisprache verwendeter Ausdruck und hatte mit dem heutigen Sachsen nichts zu tun. Die Ansiedler kamen ab dem 12./13. Jahrhundert ins Land. Sie wurden im Auftrag des ungarischen Königs durch sog. Lokatoren angeworben und sollten die ihnen zugewiesenen Grenzgebiete besiedeln, erschließen und gegen Feinde sichern. Die ihnen eingeräumten Privilegien ermöglichten ihnen eine bis ins 19. Jahrhundert reichende weitgehende Selbstverwaltung. In einer späteren Einwanderungswelle kamen Mitteldeutsche und Schlesier ins Land.)

Die Menschen im Dorf

Neben den deutschen Bewohnern gab es fünf slowakische Familien, die bei den deutschen Bauern arbeiteten und auf deren Höfen für sich und ihre Familien auch eine Unterkunft hatte. Manche slowakischen Hilfskräfte waren nur vorübergehend da, den genauen Überblick hatte man da nicht. Maltern war ganz deutsch, nur die Hirten waren slowakisch. In Topportz war der Anteil der Slowaken etwas größer.

Die Deutschen in unserem Bauschendorf waren überwiegend evangelisch, nur vier bis fünf Familien katholisch. Die Kinder der deutsch-katholischen Familien wurden nicht, wie bei den anderen Deutschen üblich, in die evangelische deutsche, sondern in die katholische slowakische Schule geschickt, die Slowaken waren katholisch. Wir Evangelischen hatten für dieses Verhalten kein großes Verständnis, denn die besondere Stellung, die die Deutschen schon seit jeher hatten, kam natürlich allen zugute, gleich welcher Religion sie angehörten. Die katholischen Deutschen wurden übrigens später nicht vertrieben. Die Juden schickten im Gegensatz zu früher ihre Kinder in den letzten Jahren ebenfalls in die slowakische Schule, wohl um sich mit den Slowaken gut zu stellen. Eine deutsche Familie, die heute in Sindelfingen wohnt, gehörte den Zeugen Jehovas an.

Es gab vier jüdische Familien (Lustgarten, Birnbaum, Tannlich, Hartmann). Zu Frau Lustgarten sagte ich: „Wir haben Ihnen und Ihren sechs Kindern zu einer Wohnung verholfen, warum schicken Sie die Kinder jetzt in die slowakische Schule?“ Sie und ich waren böse aufeinander, denn bis dahin hatten die Kinder immer die deutsche Schule besucht. Unsere jüdischen Nachbarn Tannlich, sie betrieben eine Spiritusbrennerei, holten wie auch andere bei uns immer die Milch. Sie hinterließen vor ihrer Deportation bei uns eine Kiste Wäsche, die sie sich nach ihrer Rückkehr wieder abholten. Man sieht daran, dass nicht alle Juden umgekommen sind. Wir wussten nichts darüber, wohin die Juden während des Krieges gebracht wurden. Eine Synagoge gab es in Bauschendorf nicht.

Wir haben uns mit den slowakischen und jüdischen Mitbewohnern ansonsten immer gut verstanden. Es gab keine Spannungen in unserem Dorf wegen unterschiedlicher Volkstumszugehörigkeit. Eher konnte die unterschiedliche Religion ein Grund sein.

Der Hof und sein Umfeld

Das Bild Bauschendorfs war von den Bauernhöfen geprägt, die sich zum großen Teil entlang der „Dorfstraße“ hinzogen. Zu den größeren Grundbesitzern im Ort gehörten z. B. die Familien Glatz, Scholtz, Neupauer, Münnich, Krempasky und wir, die Kobialkas. Wir waren meist miteinander verwandt. Unser „Kastell“ lag an einer Seitenstraße, die am „Boch“ entlangführte. Ganz in der Nähe war das Anwesen der Familie Glatz. Dort wurden neben der Landwirtschaft eine Mühle und eine Sägemühle betrieben. Sie leisteten sich damals schon ein Auto und ein Reitpferd. Es war im Ort noch eine weitere Mühle vorhanden. Und es gab einen Konsum im Dorf, der in einem Saal eines älteren Gasthauses untergebracht war. Da haben wir eingekauft. Die schon erwähnte Spiritusbrennerei war eine Genossenschaftseinrichtung der Bauern und wurde von Tannlich nur verwaltet. Bei uns gediehen Kartoffeln besonders gut, die wurden hier verwertet, der Spiritus dann in großen Behältern nach Leutschau abtransportiert und als Kartoffelschnaps verkauft. Z. B. war für Weizenanbau unser Boden und unser Klima nicht geeignet.

Unsere Dienstleute kamen meist aus Polen. Wir hatten zwei Knechte, eine Magd und ein deutsches Arbeiterehepaar. Bei uns, so auch bei meinem Mann, galt die Devise: Die Knechte ackern nicht richtig, wenn der Bauer nicht dabei ist. Der Bauer und die Bäuerin müssen an erster Stelle arbeiten und vorangehen, sonst funktioniert es mit der Arbeit nicht.

Das bäuerliche Leben

Der Jahresablauf bestimmte unser bäuerliches Leben, den Alltag wie die Feste. Besonders gut erinnere ich mich an das Schweineschlachten im Winter. Da kam jedes Mal ein Onkel zum Helfen, der das Schwein erschossen hat. Das gekochte Stichfleisch, auch Kesselfleisch genannt, wurde mit Sauerkraut und sauren Paprikakartoffeln auf Teller geschichtet. Früher wurden beim Schlachten die Verwandten eingeladen. Jetzt mussten wir Kinder mit den hergerichteten Portionen die Runde machen und sie austeilen. „Grützwurst“ bzw. „Blutwurst“ – das Blut wurde mit Graupen, Pfeffer und Salz gekocht – gehörte auch dazu. Der Lehrer bekam frisches Fleisch und ein Stück Fleischwurst mit Knoblauch. Die schmeckte besonders gut. Wir bekamen für das Austragen 50 Heller oder 1 Krone.

Das Fleisch wurde ansonsten in Holzfässern eingesalzen, ähnlich wie Sauerkraut, und geräuchert. Das geschah auch mit dem Fleisch der 10-12 Schafe, die wir am 1. November schlachteten. Aus frischem und geräuchertem Fleisch wurde Suppe gekocht und mit Graupen gegessen. Ich selber mochte das geräucherte Fleisch nicht gern, frisches Fleisch vom Lämmchen im Sommer war mir lieber. Im „Steinhaus“, einem Vorratsgebäude gegenüber dem Hof auf der anderen Straßenseite, war der Speck. Wenn es den Graupeneintopf gab, ging mein Mann hin und hat sich ein Stück abgeschnitten, und mit Brot gegessen. Den Eintopf mochte er nicht.

Vieles war nicht so bequem wie heute, z. B. die Wasserversorgung. Bei den Steinhäusern war früher auch der Brunnen, ein bis zwei für die Straße. Wir hatten allerdings einen eigenen Brunnen im Hof, das hatten nicht alle Bauern. Vom Brunnen aus waren Rohre ins Haus verlegt. Elektrisches Licht gab es erst seit 1942, bis dahin hatten wir Petroleumlampen. Die Stromrechnung richtete sich danach, wie viel Steckdosen man im Haus und Stall hatte.

Die Menschen lebten genügsam. Beim Essen spielten Brot, Graupen und Kartoffeln eine wichtige Rolle, Gemüse gab’s weniger. Neben den Hauptmahlzeiten gab´s vormittags noch ein zweites Frühstück und nachmittags einen Kaffee, aber keinen Bohnenkaffee. Mutter hat dabei den Arbeitern regelmäßig auch einen mit Wasser verdünnten Kartoffelschnaps ausgeschenkt, wie wir ihn von der Spiritusbrennerei bekamen. Abends aßen wir täglich Kartoffeln mit heißer Milch und ausgelassenem Speck, den sich übrigens die Topportzer nicht leisteten. Alle aßen aus einer Schüssel, die in der Mitte des Tisches stand. Ein paar von unseren traditionellen Rezepten habe ich aufgeschrieben.

Man hatte nur wenige Kleidungsstücke. Das Spinnen, Weben, Nähen, Sticken – alles wurde ursprünglich selbst gemacht. Wäsche und Kleidung waren wertvoll. Manche Teile, z. B. wenn sie aus Wolle gewirkt waren, konnte man gar nicht waschen, sie mussten entsprechend sorgfältig behandelt werden. Vor allem die Trachten wurden weitervererbt. In jüngerer Zeit hat man dann allerdings die Stoffe für die Alltagskleidung gekauft.

Unsere Vergnügungen beschränkten sich auf das Dorf. In unserem Anwesen, da es ja einmal einem Baron gehört hatte, war ein größerer Saal. Den konnte man für bestimmte Veranstaltungen benützen. Vor allem wurde da zu jener Zeit Theater gespielt. Ich als junges Mädchen war auch dabei. Auch das Tanzen habe ich hier bei den jungen Leuten gelernt. 1937 erhielt der Konsum einen Anbau, einen wunderschönen großen, mit Säulen ausgestatteten Saal, in dem jetzt die Feste gefeiert werden konnten.

Einmal im Jahr fuhren die Eltern einen Tag ins nahe gelegene Bad Rauschenbach, wo es Schwefelquellen gab. Das war alles an Ausflügen. Wir hatten zwar eine Kutsche, aber die hätte man nicht zu weiteren Vergnügungsfahrten verwendet. In die Hohe Tatra kam ich nur ein einziges Mal, weil wir dahin einen Schulausflug gemacht haben.